Stock und Speer, wie Donner und Blitz

Eine der ältesten Taiji Formen überhaupt ist die Stock/Speer Form (Chen shi taiji li hua qiang jia bai yuan gun) der Chen Familie und geht bis auf Chen Wangting zurück. Gu Liuxin verweist in seinem Buch „The Origin, Evolution and Development of Shadow Boxing“ auf den Kampfkunstmeister Tang Hao (1897-1959), der durch seine Forschungen über die Ursprünge des Taiji Quan folgerte, das Chen Wangting beim Ausarbeiten der Stock/Speer Form stark von den Schriften des Ming Generals Qi Jiguang (1528-1587) beeinflusst wurde. Qi Jiguang, der selbst ein herausragender Speerkämpfer war, favorisierte die Speer-Techniken der 24er Speerform der Yang Familie (nicht zu verwechseln mit der Yang Familie, welche das Yang Taiji Quan verbreitete) und integrierte diese in seine Schrift über militärisches Training. Chen Wangting folgte beim Kreieren der originalen Version der Stock/Speer Form dem Schema der 24er Yang Speer Form, übernahm Techniken, Stellungen und die Namen der einzelnen Bewegungen. Zudem integrierte er die Taiji Prinzipien und die Stock/Speer Form wuchs nach und nach von 24 auf bis zu 72 Bewegungen, die in ihren Anwendungen immer wieder zwischen Stock- und Speer-Techniken wechseln.

Die Grundlage für das Beherrschen der Speertechniken ist ein solides Fundament im Umgang mit dem Stock. In chinesischen Kampfkunstkreisen heißt es: Den Stock täglich über 100 Tage lang trainieren, um ihn auf dem Schlachtfeld anwenden zu können. Um mit dem Speer kämpfen zu können, sind 1000 Tage täglichen Trainings nötig, das Meistern des Schwertkampfes macht 10 000 Tage täglichen Trainings nötig. Der Stock ist die Mutter der Waffen, der Speer der König und das Schwert die Königin. Der Stock symbolisiert den Drachen und entspricht der Wandlungsphase Holz.

Der Stock/Gun

Das Material, Länge und Gewicht des Stockes lassen sich nicht in einen Standard zwingen. Sie sind abhängig von der geographischen Region, der Zeitepoche, der Größe und Kraft des Kämpfers. Im Westen und Norden Chinas verwendete man Hartholz wie z.B. Eiche, Birke oder Rosenholz. Im Süden eher Rattan oder Bambus. Die früheren Krieger-Generationen wählten eher schweres Hartholz. Im Laufe der Zeit favorisierte man leichteres Holz um schnellere Aktionen durchführen zu können. Die Länge des Stockes variierte im Norden zu der im Süden. Im Norden galt die Faustregel, das der Stock bis zum Handgelenk des nach oben ausgestreckten Armes reichen sollte. Der Stock der südlichen Kämpfer reichte nur bis zu den Augenbrauen (Qi Mei Gun). Eine Art des Qi Mei Gun wird auch in der Chen Familie unterrichtet. Bei seinem Besuch in Lüdinghausen vermittelte mir Chen Zhiqiang die Form Chen Shi Qi Mei Gun, wobei der Stock bis zu den Augenbrauen reicht. Im alten China waren drei Arten des Stockes berühmt: 1.) Der einfache gerade Stock (Gun). 2.) Ein mit Metallkappen an den Enden versehener Stock, der Wasser- und Feuer-Stock (Shui Huo Gun) genannt wurde und dessen metallene Enden die Schlaghärte erhöhen und ein Aufsplittern der Enden verhindern sollte. 3.) Die dritte Stockart nutzte eine spitze Metallkappe (Gun Qiang) um auch durch Rüstungen zu stoßen. Der Stock wird, wie der Säbel, mit massiver Kraft eingesetzt. Entsprechend einfach sind die Techniken des Stockes, z.B. mit den Enden und dem Schaft stoßen, schlagen, fegen und starr oder kreisend blocken. In schnellen Wechseln werden Schläge mal mit dem einen, dann mit dem anderen Ende ausgeführt, was den Stock zu einer sehr direkten Waffe macht. Die Stocktechniken werden ausgefeilter, wenn der Stock mit verschiedenen Spitzen zum Speer oder zur Hellebarde wird. Das zeigt, dass der Gebrauch von Speer oder Hellebarde immer auch Stocktechniken beinhaltet.

Der Speer/Qiang

Der Ursprung des Speeres datiert in der chinesischen Geschichte weit zurück und soll auf einen Bambusstock zurückgehen, der an einem Ende spitz zugeschnitten wurde (Zhu Qiang). Mit Verbesserung der Metallherstellung und Verarbeitung wurde der Stock mit einem spitzen, metallenen Knauf versehen (siehe Shui Huo Gun). Erst später entwickelten sich blattartige Klingen, die als Spitze montiert wurden. Dieser Blattklingen-Speer wurde auch als Wurfspeer (Biao Qiang) verwendet. Mit der weiteren Entwicklung des Speerkampfes wurden eine Vielzahl verschiedener Spitzen hergestellt, mit denen die unterschiedlichsten Anwendungen durchgeführt wurden. Der General Yue Fei z.B., der das Xing Yi Quan entwickelt haben soll und in der Zeit der südlichen Song Dynastie (1127-1280 n.chr.) lebte, entwickelte einen Speer mit einem zweischneidigen sichelförmigen Haken unter der Spitze. Diesen Speer konnte er gegen die Beine der Pferde zum Zerschneiden der Sehnen einsetzen. Dieser Speer bekam im Laufe der Zeit den Namen Gou Lian Qiang, dessen Weiterentwicklung zum Pu Dao wurde, einer Kurzhellebarde (Abb. 1). Die Entwicklung der Spitze führte schließlich bis zum Doppelkopfspeer (Shuang Tuo Qiang) (Abb. 2-5). Der verwendete chinesische Stahl war recht kohlenstoffreich, was ihn verschleißanfällig machte. Mit modernem Stahl verbesserte sich auch die Haltbarkeit. Speerspitzen kann man sich heute in kurzer Zeit nach eigenen Ansprüchen selbst schmieden. In 2009 bietet die WCTAG-NRW zwei Kurse zum Schmieden einer Speerspitze an.

Die Tassel

Eine grundlegende Entwicklung geschah noch vor der „Spitzen-Evolution“. Um ein Abfließen des Blutes entlang des Schaftes zu verhindern, entwickelte man einen Blutstopper (Xue Dang): Die Tassel. Ursprünglich aus Pferdehaar hergestellt, eignete sich diese Tassel hervorragend um Blut nicht auf dem Schaft fließen zu lassen. Geronnenes Blut macht die Stange sehr glitschig und eine sichere Handhabung war nicht gegeben. Auch heißt es, dass die Tassel den Gegner verwirren sollte.

Das Holz

Als Speerkörper nutzte man ab der Jin Dynastie (265-420 n.Chr.) vorwiegend Bai La Mu, welches ausschließlich im Norden Chinas wächst, oder Rattan, welches im Süden Chinas vorkommt. Dieses Holz war biegsam und leicht, was schnellere Aktionen möglich machte. Die heute erhältlichen Speere bestehen aus dem weißen Wachsholz, welches sich wachstumsbedingt zur Spitze hin konisch verjüngt.

Im Kampf Mann gegen Mann waren die Speere eher kürzer (Abb. 6-6a). Kämpfte der Fußsoldat vorwiegend gegen berittene Krieger oder gegen Gegner in Streitwagen, war eine längere Stange nötig. Mit diesen Langspeeren (Da Qiang/Mao Qiang) kämpften auch Reiter und Streitwagenkämpfer untereinander (Abb. 7-8).

Grundtechniken und Einzeldrills

Um effektiv mit Stock und Speer zu kämpfen, müssen grundlegende Techniken in Einzeldrills trainiert werden. Speertechniken sind extrem schnell und beweglich wie der Schwanz des Drachen.

Allgemein nutzt die Chen Familie 14 Grundtechniken für die Anwendung von Stock und Speer, wobei die meisten davon der Spitze auf der Stange Rechnung tragen und somit Speertechniken sind.

14 Grundtechniken

  1. Lan – abwehren/blocken
  2. Da – schlagen
  3. Zha – Stoß
  4. Pi – drüberlegen
  5. Beng – explodieren/wie vom Splitter getroffen
  6. Sao – wischen/fegen
  7. Dian – Punktschlag
  8. Tiao – mit einem Peitschen schnalzen
  9. Pi – spalten
  10. Ba – ziehen
  11. Jia – trennend abwehren
  12. Jiao – drehen/umkreisen
  13. Chan – einwickeln
  14. Ci – stechen

Prinzipien wie Zhan (Kontakt) und Nian (kleben bleiben) sind, wie im gesamten Taiji Quan, auch in der Stock/Speeranwendung grundlegend. Chen Wangting arbeitete mit den Prinzipien Zhan und Nian die Übungen der klebenden Speere heraus. In der Form werden nur wenige Bewegungen langsam ausgeführt. Das allgemeine Übungstempo ist energisch, direkt und schnell, mit vielen explosiven Kraftentladungen. Grundlage aller Techniken und Bewegungen sind eine taijispezifische Haltungsstruktur und Beinarbeit, wie sie durch die Handformen installiert werden.

Stock und Speer der Chen Familie sind ein hervorragendes Trainingswerkzeug, welches hilft, schnell Kraft und Energie zu entwickeln. Das gilt besonders für die Energie und Kraft, welche über den Rücken, Schulter in die Arme läuft. Die Grundübung des Lan-Da-Zha ist eine gute Methode, um die Beine, Hüften, Rumpf und Arme und ein starkes Fajing zu entwickeln.

Besonders die Speertechniken kräftigen den linken Arm und helfen, die Koordination von Augen, Händen, Stellungen und Schritten zu entwickeln.

In der Ausbildung an Stock und Speer macht es Sinn, den Stock vom Speer zu differenzieren und zunächst die Prinzipien und Energien des Stockes klar zu trainieren. Das Greifen von Stock und Speer unterscheidet sich. Der Stock wird mit beiden Händen in gleicher Weise gegriffen. Dabei sind es vor allem Daumen und Zeigefinger, welche den Stock halten. Beim Speer greift die linke Hand mit Daumen, Mittel-, Ring- und Kleinfinger. Der Zeigefinger liegt eher auf der Stange, was den Speertechniken Rechnung trägt. Mit biegsamen Holz und einer entsprechenden Greiftechnik werden spiralige Anwendungen möglich. Der Speer wird oft um die gegnerische Waffe geführt, um Angriffe auf die waffenführende Hand zu lenken. Stock und Speer sind Distanzwaffen und auf Distanz sind sie gefährliche Waffen. Im Nahkampf sind Kurzwaffen wie Schwert und Säbel dem Stock/Speer überlegen. Um Stock und Speer kampftauglich zu meistern, empfiehlt es sich, neben dem Üben der Solo- und Partnerformen Basistechniken einzeln zu trainieren und nach und nach auszuarbeiten. Zunächst sollte der Fokus auf den Stock gerichtet sein, um durch Grundübungen Koordination von Armen, Rumpf und Beinen zu fördern, ein Grundgefühl für die Stange und Schlagkraft zu bekommen. Stocktechniken werden mit massiver Kraft ausgeführt, eine entsprechende äußere Kraftentwicklung ist notwendig, um relativ schnell kampftauglich zu werden. Einer meiner Lehrer betonte immer wieder, das Stock und Säbel grobe Waffen sind und Filigran-Techniken später auf der Grundlage äußerer Schlagkraft herausgearbeitet werden sollten. Aufgrund des massiven Krafteinsatzes mit der entsprechenden Durchschlagskraft verdrängte z.B. der Säbel das Schwert von den Schlachtfeldern. Wie massiv zwei grobe Waffen zusammenarbeiten sehen wir bei der Hellebarde, wo Stock und Säbel zu einer extrem gefährlichen Waffe verschmolzen sind. Mit dem Stock lässt sich, neben dem Solo- und Partnertraining, auch gut an Sandsack und Pratzen üben.

Von Grob nach Fein

Wird der Stock sicher beherrscht, lassen sich die speziellen Anforderungen eines Stockes mit einer Speerspitze, die ein zweischneidiges Messer ist, austrainieren. Der Einsatz der Stich-, Schnitt- und Hackklinge auf der Stange erweitert die Anwendungsmöglichkeiten des Stockes, und andere Einzeldrills werden nötig. Im Training mit Stock und Speer verläuft die Entwicklung von grob nach fein. Das Üben von Einzeldrills mit dem Speer, mit und ohne Schrittarbeit, fördert Spiralkraft und stärkt den gesamten Körper. Täglich 100x mal Lan-Da-Zha in mittlerer bis tiefer Stellung regelmäßig durchgeführt, fördert sehr schnell Kraft und Kondition. Um die Speerspitze treffgenau ins Ziel bringen zu können, werden Stichübungen auf Zielscheiben oder Zielringe in verschiedenen Größen trainiert. Dabei wird die linke Hand zum Zielen und die rechte als „Treibladung“ benutzt. Übungen von Punktschlägen aus allen Richtungen erweitern die Treffsicherheit. Um Schnitte ausführen zu können, müssen wir wissen wie die Schnittflächen auszurichten sind. Mit zunehmender Übung werden Stock und Speer zu einem integrierten Teil unseres Körpers, der auch mental und energetisch integriert werden muss.

Damit Stock und Speer einen Kampf gegen andere Waffengattungen (z.B. Säbel und Schwert) unbeschadet überstehen können, wird das Holz in Paraffin oder Öl für mehrere Wochen getränkt, wodurch die Stange biegsamer und glatt wird. So gleiten selbst scharfe Klingen an dem Holz ab. Überhaupt sollte das Holz der Stange biegsam sein, damit Folgeschäden des Trainings in den Gelenken vermieden werden. In der Regel wird weißes Wachsholz (Bai La Mu) benutzt, welches konisch verjüngend zur Spitze hin verläuft. Unterschiedliche Dicken, Längen und Verwachsungen erfordern eine persönliche Auswahl des Holzes. Stock und Speer haben wegen ihrer Effektivität einen hohen Stellenwert unter den chinesischen Waffen. Sie sind in ihrer Anwendung wie ein Gewitter. Wie Blitz und Donner wirken sie zusammen.

Text: Gerhard Milbrat

Quellen:

The Boxing Classic of Qi Jiguang
by Kenneth Cohen USA 1994

Ancient Chinese Weapons
Dr. Yang Jwingming-USA 1999

Chen Style Taijiquan
Davidine Siaw Voonsim + David Gaffney
California 2002