Taijiquan und traditionelle chinesische Medizin

Bei uns richtig bekannt geworden ist das Tai Ji Quan (TJQ) als eine der Gesundheit und Lebenspflege dienliche Übungsmethode, mit der wir die Voraussetzungen für ein gesundes und vitales Leben schaffen können. Weltweit widmen sich mittlerweile Millionen von Menschen dem TJQ aus den unterschiedlichsten gesundheitlichen Hintergründen heraus. Die Palette der Erkrankungen und Störungen, bei denen TJQ hilfreich ist, reicht von Erkrankungen des Halte-Stützapparates über Herz-Kreislauferkrankungen, Erkrankungen der Atmungsorgane bis Verdauungsstörungen, Immunschwäche und streßbezogenen Störungen. Mit guten Ergebnissen wird TJQ in Rehabilitationskliniken eingesetzt. Bücher können gefüllt werden mit Verlaufsberichten, Fallbeispielen und Erfahrungsberichten. Immer mehr wird TJQ und dessen medizinische Wirkungen wissenschaftlich ausgelotet und das ist auch gut so. Für den TJQ-Lernenden bietet es sich geradezu an, sich die Medizin der Chinesen etwas genauer anzuschauen.

Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)

Die herausragenste und unverwechselbarste Theorie des TJQ ist die Theorie von Yin + Yang. Zusammen mit dem Konzept vom Qi durchdringt die Idee von Yin + Yang die chinesische Philosophie und ist wie im TJQ auch in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) die wichtigste Theorie. Wie wir wissen stehen Yin + Yang in ständiger Wechselwirkung, die 4 Hauptaspekte zeigen:

  1. die Gegensätzlichkeit von Yin + Yang,
  2. die gegenseitige Abhängigkeit von Yin + Yang
  3. der wechselseitige Verbrauch von Yin + Yang
  4. die wechselseitige Umwandlung von Yin + Yang

Die Anwendung von Yin + Yang in der TCM nutzt vorrangig 4 Strategien:

  1. das Yin stärken
  2. das Yang stärken
  3. Yin-Fülle beseitigen
  4. Yang-Fülle beseitigen

Eine Einteilung der Organe in Yin + Yang zeigt das Konzept der 5 Speicher- und 6 Palastorgane (Wu Zang Liu Fu)

Die fünf Speicherorgane (Zang) sind Yin: Leber, Herz (Herzbeutel), Milz, Lungen und Nieren. Zu ihren Aufgaben gehört die Herstellung, die Lagerung und Kontrolle/Lenkung der Grundsubstanzen Qi (Funktion, Energie), Blut und Körperflüssigkeiten.

Die sechs Palast- oder Hohlorgane (Fu) sind Yang: Dickdarm, Dünndarm, Magen, Gallenblase, Blase, Dreifacher Erwärmer (San Jiao). Ihre Hauptfunktionen sind das Aufnehmen, Trennen, Verteilen und Ausscheiden von Nahrungsmitteln und Körpersubstanzen sowie die Herstellung des Qi.

Jeweils ein Yin- und ein Yang-Organ bilden eine funktionelle Einheit, der eine Wandlungsphase, Meridiane, Sinnesorgane, bestimmte Gewebe und mehr zugeordnet werden. Sie bilden einen Funktionskreis mit bestimmten Aufgaben. Ist ein Teil des Funktionskreises auffällig oder krankhaft verändert, schließt der TCM-Arzt auf den entsprechenden Funktionskreis und richtet seine Therapie entsprechend aus.

Wu Xing

Gemeinsam mit der Theorie von Yin + Yang ist das Konzept der 5 Wandlungsphasen (Wu Xing) die Basis der chinesischen Medizintheorie. Jede der 5 Wandlungsphasen repräsentiert u. a. einen bestimmten Meridian, Organ, Emotion, Farbe, Sinnesorgan und Jahreszeit.

Die 5 Wandlungsphasen (auch 5 Elemente) symbolisieren ebenfalls 5 unterschiedliche Bewegungsrichtungen.

Holz entspricht einer Expansion nach außen in alle Richtungen geführten Bewegung,
Metall dagegen für eine sich zusammenziehende Bewegung,
Wasser wird mit einer nach unten gerichteten,
Feuer mit einer nach oben gerichteten Bewegung und
Erde mit Stabilität oder Neutralität gleichgesetzt.


Abb. 1

Auch die Wu Xing stehen zueinander in Wechselbeziehung. Die Interaktionen zwischen den 5 Wandlungsphasen sind von grundlegender Bedeutung für das ganze Konzept. Man unterscheidet unterschiedliche Interaktionen: die Hervorbringungssequenz, die Kontrollsequenz, die Überwindungssequenz und die Verachtungssequenz (s. Abb. 1).
Die beiden ersten Zyklen befassen sich mit dem normalen Gleichgewicht der Elemente untereinander. Die letzten beschäftigen sich mit der gestörten Beziehung der Elemente untereinander.

Vitale Substanzen

Das Funktionieren von Körper und Geist erklärt die TCM als das Ergebnis der Interaktion vitaler Substanzen. In der Reihenfolge der Substanzhaftigkeit nennt man Qi/Energie, Xue/Blut, Jing/Essenz und Jinye/Körpersäfte.

Letztendlich ist alles Qi in verschiedener Abstufung von Substanzhaftigkeit. Die TCM differenziert das Qi in Yuan Qi (Ursprungs Qi), Gu Qi (Nahrungs Qi), Zong Qi (Sammel Qi), Zheng Qi (Wahres Qi), Ying Qi (Nähr Qi) und Wei Qi (Abwehr Qi).

Unabhängig von den verschiedenen Qi Arten sind die grundlegenden Qi-Funktionen: Umwandeln, Transportieren, Halten, Heben, Schützen, Wärmen.
Krankhafte Störungen des Qi-Haushaltes zeigen sich auf 4 verschiedenen Arten: Qi-Mangel, krankhaftes Absinken des Qi, Stagnation von Qi und rebellierendes Qi, wenn es in die falsche Richtung fließt.

Jing Luo


Abb. 2

Qi verteilt sich über ein Leitbahnsystem im gesamten Organismus (s. Abb. 2).

Es werden 14 Haupt- und 6 Sondermeridiane unterschieden, die, untereinander vernetzt, vielerlei Funktionen erfüllen. 12 der Hauptmeridiane sind bilateral paarweise angelegt. Sechs entsprechen Yin, sechs entsprechen Yang. Sie beginnen oder enden an den Fingern bzw. Zehen. Es wird das Yin + Yang der Arme sowie das Yin + Yang der Beine unterschieden (s. Abb. 3).


Abb. 3

Das Yin der Arme fließt in den Leitbahnen von Lunge, Herz und Herzbeutel, das Yang der Arme fließt in den Meridianen von Dickdarm, Dünndarm und 3-Erwärmer, der den oberen, mittleren und unteren Teil des Leibes beschreibt.
Das Yin der Beine fließt in den Leitbahnen von Milz, Niere und Leber, das Yang der Beine fließt in den Meridianen von Magen, Gallenblase und Blase.


Abb. 4

2 der 14 Hauptmeridiane verlaufen mittig des Rumpfes vom Damm zum Kopf, wobei die Rückseite dem Yang, die Vorderseite dem Yin entspricht. Die Meridiane sind im Idealfall durchgängig und harmonisch mit Qi gefüllt. Der Pulswelle in arteriellen Blutbahnen ähnlich, durchläuft im Laufe von 24 Stunden eine Energiewelle das Leitbahnsystem (siehe Abb. 4). Die Meridiane sind Funktionskreisläufe und haben eine enge Verbindung zu den Hauptorganen.

Diagnose

Auf der Grundlage der genannten Konzepte und den Interaktionen und Funktionen erstellt der TCM-Therapeut eine Diagnose. Er nutzt Sehen, Hören, Riechen, Fragen und Fühlen. Er bildet sich ein umfassendes Bild, das alle Symptome und Krankheitszeichen in Betracht zieht. Er sucht nicht primär nach Ursachen, sondern nach Mustern. Diese können identifiziert werden gemäß 8 Prinzipien. Die 8 Prinzipien sind eine Zusammenfassung aller anderen Identifikationsmethoden und ist bei allen Erkrankungen anwendbar:

Innen – Aussen, Leere – Fülle,
Hitze – Kälte, Yin – Yang

Weitere Muster lassen sich u. a. identifizieren:
gemäss Qi – Blut und Säfte, gemäss der inneren Organe, gemäss der 5 Elemente, gemäss der Leitbahnen, gemäss der pathogenen Faktoren.

Ist das Muster einer Störung oder Erkrankung identifiziert, dann kommen die Methoden der Behandlung zum Einsatz.

Die TCM nutzt Akupunktur, Moxibustion, Diätetik, Kräuterheilkunde, Chiropraktik, Massage, Schröpfkopftherapie, Qi Gong, Tai Ji Quan sowie Sonderformen der genannten Methoden.

Diagnose und Behandlung sollte Fachleuten vorbehalten bleiben. Um selbst etwas für sich zu tun, seine Disharmonien und Blockaden zu regeln, bietet sich TJQ an.

Tai Qi Quan (Praxis und Wirkungen)

Die TJQ-Praxis hilft uns eine innere und äußere Haltungsstruktur zu finden, bei der alle Gelenke und Leitbahnen geöffnet werden und die vitalen Substanzen frei fließen können. Die millimetergenauen Korrekturen durch unsere/n TJQ-LehrerIn helfen uns, sensibel zu werden für unseren Körper und unsere Energie und dessen Wirkmechanismen. Auch wenn wir die Wirkmechanismen nicht im Detail kennen, spüren wir, ob wir auf dem richtigen Weg sind. TJQ ist an sich selbst praktizierte Gesundheits- und Lebenspflege, dessen Vermittlung eines verständigen Lehrers bedarf, und somit die Arbeit eines TCM-Therapeuten ergänzen kann.


Abb. 5

Durch unser tägliches TJQ-Üben reinigen wir unsere Energie und füllen sie auf. Jeder hat wohl nach der „Stehenden Säule“ seinen Schutz-Qi-Mantel (Wei Qi) wahrgenommen. Bei den meisten Menschen, die mit TJQ beginnen, sind Yin + Yang nicht in Harmonie, was sich zunächst aus Haltungsfehlern und der mitgebrachten Konstitution ergibt. Es heißt unten fest und oben leicht. Oft ist es aber so, dass unser Zentrum anstatt des unteren Dantian Kopf oder Herz sind. Unser Körperschwerpunkt ist damit zu weit oben, wir haben keine Wurzel und sind den Äußerungen von Verstand und Emotion wie ein Ping Pong Ball ausgeliefert. Ich nenne das eine „Yang-lastige Konstitution“ (s. Abb. 5).


Abb. 6

Mit dem Umsetzen der TJQ spezifischen Haltungsstruktur können Kopf und Brust leer, der Unterbauch voll werden und das Verwurzeln mit der Erde erreicht werden. Äußerst wichtig für das Öffnen nach unten ist die Korrektur des Beckens und der Hüfte (s. Abb. 6).

Die zunächst Yang-lastige Konstitution kann sich harmonisieren. Dem gegenüber steht die Yin-lastige Konstitution, wobei die Energie zu stark nach unten ausgerichtet ist, was ein Einfallen, Kollabieren der Haltungsstruktur zur Folge hat. Es mangelt an Yang. Wie in der TCM suchen wir eine Harmonie von Yin + Yang in immer feineren Abstufungen. Aber das klappt nicht auf Knopfdruck. Wollen wir TJQ als Medizin nutzen, so ist es eine Medizin, die wir täglich einnehmen müssen, „wie sollte es auch anders sein“. Diese Medizin schmeckt natürlich auch bitter. Das heißt, dass wir mit Beginn unserer Übungspraxis die unterschiedlichsten „Zipperlein“ durchlaufen.

In der „Stehenden Säule“ z.B. werden wir neben den Spannungsschmerzen eine ganze Palette von Empfindungen durchlaufen. So sind Taubheit/Erstarrung, Kribbeln, Schmerzen, Wärme, Schwanken und Asymmetrie in den ersten Wochen fast allgemeine Empfindungen, bis sich nach ca. 6 Wochen täglicher Übungszeit Wohlbefinden und Entspannung einstellen. Bei anhaltendem Unwohlsein oder Schmerzen kann die Ursache eine Rippen-, Wirbel-, Beckenfehlstellung sein, was der Therapie eines Fachmannes bedarf. Im Laufe der Übungszeit vertieft sich unser Energieverständnis und die Wirkung, die sich nach und nach auch auf psychischer Ebene zeigt. Gute Korrekturen beseitigen tiefliegende Blockaden, die sich oft auf emotionaler Ebene zeigen.

Bei einem „Yin-lastigen“ Teilnehmer in einem meiner Kurse äußerte sich die Harmonisierung zu Yang hin dadurch, dass er anfing, seiner Schwiegermutter Paroli zu bieten. Er kam allerdings nach einiger Zeit sichtlich genervt und fragte, ob das denn auch wieder aufhöre. Früher hätte er doch mehr Ruhe in der Familie gehabt. Sein Problem legte sich im Laufe der Zeit mit zunehmender Übungspraxis.

Durch die Standmeditation entwickeln wir Verständnis für eine korrigierte Haltung und wir programmieren unsere alte Haltung um. Haltungskorrektur bewirkt Muskel-Sehnen Entspannung, Muskel-Sehnen-Entspannung bewirkt innere Ruhe. Sehr oft verschwinden dabei auch die Rückenschmerzen, die uns so plagten. Durch die Can Si Gong- und Formenübungen mit den Spiralbewegungen aktivieren wir den Fluss der Energie und Qi und Blut fließen frei, das Großhirn harmonisiert sich, wir bekommen mehr Sauerstoff. Durch den Einsatz des Unterbauches findet eine Reinigung und Immunstimulation durch die sanfte Darmmassage statt. Zum „Arbeiten mit dem Unterbauch“ findet sich interessante Information in der bei uns kontrovers geführten Diskussion um das Bauchhirn. Dabei geht es um jede Menge Nervenzellen, welche die Darmwände vernetzt umhüllen und ungeahnt wichtige Funktionen in unserem Organismus bewirken.

Taijiquan aus der Sicht der TCM

Sehen wir die möglichen gesundheitlichen Auswirkungen des TJQ als Balance von Yin + Yang, Harmonisierung von Qi und Xue (Energie und Blut), Durchgängigkeit der Meridiane und Kultivierung von Zhen Qi (wahres Qi), so erkennen wir die Einbettung des TJQ in die TCM.
Die wichtigsten Aspekte der gemeinsamen Grundlagen aller inneren Übungen der TCM lassen sich in 6 Punkten zusammenfassen:

  • Entspannung, Ruhe und Natürlichkeit
  • Vorstellungskraft und Qi folgen einander
  • Bewegung und Ruhe gehören zusammen
  • oben leicht und unten fest
  • das richtige Maß
  • Schritt für Schritt

Die Mechanismen des TJQ erläutert die TCM mit dem primären Versuch des Organismus Mensch, die nicht enden wollenden Gegensätze zwischen ihm selbst und seiner Umwelt auszugleichen. Um die biologischen Prozesse in Gang zu halten, steht der menschliche Organismus durch Austausch von Materie in enger Beziehung zu seiner Umwelt, zum anderen laufen im Inneren des Körpers in allen Organen und Funktionskreisläufen Stoffwechselprozesse ab. Die TCM ist der Meinung, dass derartige biologische Prozesse durch die innere Transformation von Qi (Qi Hua) bewirkt werden. Die Wirkung von TJQ besteht nun darin, Lernen mit Nutzung der Übungsaspekte Körperhaltung, Atmung und dem „Bewahren der Vorstellungskraft“ (Yi Shou) die Transformation von Qi zu verstärken. Die verstärkte Qi Transformation kann im Organismus die Balance von Yin + Yang, die Harmonisierung von Qi und Blut, die Durchgängigkeit der Meridiane und die Kultivierung des wahren Qi bewirken.

Gerhard Milbrat