Daoistische Lebenspflege in den Zhong Nan Bergen

Erschienen im Taijiquan & Qigong Journal 1/2013

Die Zhongnan-Berge (终南山) südwestlich von Xi’an (西安) sind ein Hauptzentrum des Daoismus, denn dort befindet sich nicht nur der Ort, an dem Laozi der Legende nach das Daodejing (道德经) konzipierte und weitergab; die Gegend brachte auch die Drachentorlinie (longmenpai 龙门派) der Schule der Complete Perfection (Quanzhen dao 全真道) mit ihrer besonderen Kombination von daoistischer Denkweise mit Lebenspflege und innerer Alchemie hervor.

Seit über eintausend Jahren haben weise Männer, Einsiedler, Mönche, Priester und Heiler in diesem heiligen daoistischen Land gelebt und begeistert vom Erbe dieses Landes ihre Schüler und Anhänger inspiriert (vgl. Porter 1993)*.

Meister Li Jiacheng

Heute ist Meister Li Jiacheng (佳诚), ein Daoist der Drachentorlinie in der 22. Generation, eine der herausragenden Persönlichkeiten und Schlüsselfiguren. Seit seiner Kindheit erhielt er daoistische Unterweisungen und heute findet er sich zunehmend im Zentrum der Aufmerksamkeit öffentlichen Interesses, besonders auch durch seine Verbreitung der esoterischen Praktiken des Jindan Dao 金丹道 (Weg des Goldenen Elixiers).

Meister Li ist Abt eines kleinen, jedoch sehr alten Tempels, der „Palast des Friedens und des Glückes“ (Anlegong 安乐宫) genannt wird. Seine Arbeit konzentriert sich auf Selbst-Kultivierung, daoistische Medizin (insbesondere auf Qigong-Behandlungen) und Meditation. Er erschafft eine neue Dimension der heutigen daoistischen Praxis.

Zhongnan Shan (终南山)

Die südliche Shaanxi Provinz in Mittel-China wird von Ost nach West von einer ca. 1500 km langen Gebirgskette, dem Qinling-Gebirge (秦岭) durchzogen, das als natürliche Barriere und Wasserscheide den Norden von Südchina trennt und eine vielseitige Fauna und Flora bietet. Die Gipfel reichen 2000 bis 3000 m in den Himmel. Der Hauptgipfel ist der Taibaishan (太白山) mit 3767 m. Diese Region ist seit Alters her bekannt für ihren Reichtum an Jade, Gold, Erzen, Flora und Fauna.

Reist man von Xi’an nach Süden, erreicht man nach gut 40 km die Vorläufer des Qinling-Gebirges. Hier eingebettet sind über eine Länge von 200 km von Ost nach West die Zhongnan-Berge, deren unglaubliche schöne Landschaft als „Wiege des Daoismus“ gilt.

Heiliges Land des Daoismus

Die Zhongnan-Berge gelten als das „Heilige Land“ des Daoismus. Viele bedeutende Meister des Daoismus lebten und praktizierten hier. Auch der Gründer der Quanzhen-Schule (Quanzhen Dao 全真道) des Daoismus, Wang Chongyang (Wang Zhe王嚞, 1113-1170) aus der Provinz Shandong folgte dem Dao im Zhongnanshan. Laozi soll in den Tempelanlagen des Louguantai (楼观台) das Dao De Jing (道德经) weitergegeben haben. In der „Reise in den Westen“ (西游记) ist der „Tempel des Goldenen Unsterblichen“ (Jinxian Guan 金仙观) mit seinen Han-zeitlichen Übungsterrassen die erste Station der Reisenden. Dieser Tempel gilt ebenfalls als Ursprungsort des koreanischen Daoismus, da hier ein koreanischer Mönch „unsterblich“ wurde und dann den Daoismus in seine Heimat Korea brachte.

Jinxian Guan

Mit dem wieder erstarkenden Daoismus in China, den damit verbundenen Arbeiten zur Restauration und Ausbau der Hauptschulungszentren z.B. die Jade-Quell-Anlage (Yuquan Guan (玉泉观) am Hua Shan (花山) oder der viele Hektar große Zhongsheng Guan“ am Louguantai, kommen auch mehr und mehr kleinere und abseits gelegene Tempel und Klöster an das Licht der Öffentlichkeit. So findet sich ca. 25 km westlich des Louguantai die wieder aufgebaute Anlage „Danyang Guan“(丹陽观). Dort lebte und wirkte der daoistische Meister Ma Yu (馬鈺, auch Ma Dan Yang), der 1123 n. Chr. in der Provinz Shandong geboren wurde und wichtige Akupunkturpunkte am menschlichen Körper entdeckte und ausarbeitete. Diese sind heute als die 12 Sternenpunkte des Ma Danyang bekannt. In den unzähligen Tempeln, Klöstern, Einsiedeleien, Höhlen und Terrassen der Zhongnan-Berge erreichte auch die daoistische Medizin höchstes Niveau.

Danyang Guan

Über Generationen wurde dort daoistische Lebenspflege (Yangsheng (养生) sowie äußere (Waidan 外丹) und innere Alchemie (Neidan 内丹) auf höchstem Niveau entwickelt, praktiziert und gelehrt.

Um dem Sinn- und Werteverfall der modernen chinesischen Gesellschaft entgegen zu wirken, fördert und ermuntert die chinesische Regierung die daoistischen Gruppierungen, Einrichtungen zu restaurieren und neu aufzubauen. Neben der Wiederbelebung historischer Anlagen entstehen moderne Einrichtungen wie Kurhotels, Sanatorien und Kliniken in der auch als „Paradies des Fengshui“ bekannten Gegend des Zhongnan-Berge. Dass dort nach daoistischen Ideen und Konzepten Lebenspflege und Medizin angewandt und unterrichtet werden, versteht sich von selbst.

Unter diesen ist besonders der Tempel Anle Gong (安乐宫) zu erwähnen, der im frühen Mittelalter als buddhistischer Tempel unter dem Namen Baoning si 宝宁寺 (Kloster des kostbaren Friedens) gegründet wurde. In den frühen Jahren des Quanzhen dao, als Qiu Chuji (changchun; 1148-1227), der älteste und berühmteste Schüler des Gründers, sich in der Nähe des Berges Longmen niederließ, wurde Anle Gong ein daoistischer Tempel.

Anle Gong

Der Name Anle Gong leitet sich ab von Prinz Anle, dem 3. Sohn des Kaisers Yang Jian, dem ersten Kaiser der Sui-Dynastie. Dieser wünschte sich nach vielen Jahren des Krieges, dass sein Sohn in ‚Frieden und Glück’ (anle) aufwachsen möge.

Der Tempel ehrt alle großen chinesischen Religionen: In der Mitte der Haupthalle steht eine Buddha-Statue aus Stein, mit Konfuzius und Lord Lao zur rechten und linken. Umgeben von mit Pinien bewaldeten Bergen und frischen Quellen ist der Tempel ein wunderbarer Platz zur Erholung, ein inspirierender Platz, um die Welt hinter sich zu lassen und sich dem Weg des ewigen Dao zuzuwenden.

 Jindandao – Der Weg des Goldenen Elixiers

„Geschichte“

In den Bergen des Zhongnanshan und des Qinling-Gebirges kondensierte aus dem Daoistischen Urnebel der Drei Reinen als legendäre Gründungsväter des Daoismus über Lao Zi und Wang Chongyang im 12. Jahrhundert die Schule des Quanzhen-Daoismus (Quanzhen Dao 全真道). Quanzhen lässt sich übersetzen als „vollkommene Wirklichkeit“ und wird auch als „Weg der vollständigen Wirklichkeit“ oder als „Schule der goldenen Blüte“ bezeichnet. Quanzhen Dao ist ein Synkretismus aus Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus. So befasste man sich mit Klassikern des Konfuzianismus, las buddhistische Sutren, legte viel Wert auf Meditation und Praktizieren der Lebenspflege. Wichtiger als die Erlangung von Unsterblichkeit waren eher Verinnerlichung und Vergeistigung.

Beim Quanzhendao handelt es sich um einen Lebensweg, der auf Freiheit, Reinheit und Ruhe von Körper und Geist ausgerichtet ist.

Es waren 7 Schüler des Begründers Wang Chongyang, die großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Quan Zhen Dao ausübten. Sie wurden als die „sieben wahren Menschen“ bezeichnet. Aus ihnen gingen die 7 Zweige des Quanzhendao hervor:

Ma Yu 馬鈺 (1123-1187) die Yuxian Linie (Treffen der Unsterblichen)

Tan Chuduan 譚處端 (1123-1185) die Nan Yu Linie (südliche Leere)

Liu Chuxuan 劉處玄 (1147-1203) die Suishan Linie (Berg Sui)

Qiu Chuji 丘處機 (1148-1227) die Longmen Linie (Drachentor Daoismus)

Wang Chuxi 王處一 (1142-1237) die Yushan Linie (Berg Yu)

Hao Datong 郝大通 (1140-1213) die Huashan Linie (Berg Hua) und

Sun Buér 孫不二 (1119-1183) die Qingjing Linie (Reinheits- und Ruhesekte)

Nicht zuletzt durch das gute Verhältnis zwischen Qiu Chuji und dem mongolischen Herrscher Dschingis Khan konnte die weitere Vermittlung des Quanzhen Longmenpai die Zeit des mongolisch kontrollierten Chinas überdauern. Bis in die heutige Zeit reicht die Übertragungslinie der Lehre der Drachentor-Meister. Und bis heute nähren die Berge des Zhongnanshan den Weg der Daoisten.

Das Übungssystem des Jindandao

Der Weg des Jindandao vollzieht sich in drei Stufen, die gleichermaßen gut lern- und anwendbar sind für Praktizierende, Patienten, Therapeuten und Lehrkräfte.

Die Grundstufe dient dazu, eine theoretische und praktische Grundlage zu legen, indem man Übungen zur Läuterung und Reinigung der „Drei Schätze“ (sanbao 三宝) Essenz (jing ), Energie (qi ) und Geist (shen ) erlernt, die Methoden für körperliches Wohlbefinden vermittelt. Zudem dienen die Übungstechniken dazu, die psychische und spirituelle Ebenen fördern und bereichern.

Die zweite Stufe der Ausbildung lehrt die Entwicklung, die Kultivierung von Konzentration und verstärkt das spirituelle Training mit dem Fokus auf einer Vertiefung der verschiedenen Übungen und Techniken. Sie lehrt ebenso einen tieferen Weg, das Qi zu stärken.

Die dritte Stufe beinhaltet ein gründliches und detailliertes Studium der theoretischen Prinzipien und führt zur Kontrolle über den Körper und seiner Energien. So kommt man über ein Erwachen ins Unbewusste in Resonanz mit dem Urgrund.

Das Jindandao-System setzt sich zusammen aus mehreren Qigong-Übungen, die reinigen, klären, stärken und helfen diese Stärke nutzbar zu machen. Sie sind in die traditionellen theoretischen Ideen und Konzepte des Quanzhen Longmenpai eingebettet.

Die Praxis des Jindandao

Die anfängliche, vorbereitende Übung ist die des Dantian Qigong, eine Form der sitzenden Meditation, die zuerst den Geist und dann das Herz beruhigt. Die Schüler nehmen den so beruhigten Geist in das untere Dantian und visualisieren ihn dort als eine goldene Perle. Hier ist der leere und ruhige Geist wohnhaft und Qi wird sich ansammeln. Dieser Prozess wird mit shen erklärt, das Qi ansammelt, welches mit der Zeit und mit Übung zu jing oder Essenz verdichtet wird. Da diese Übung die Grundlage aller alchemistischen Prozesse ist, braucht es Zeit, diese zu festigen.

Der andere Teil des Dantian Qigong ist eine Standmeditation. Sie wird von kleinen Bewegungen begleitet, um der inneren Führung eine äußere Form zu geben, indem die Hände vor das Dantian gehalten werden und mental die Laogong-Punkte in den Handflächen fokussiert werden. Dabei wird eine Verbindung zum unteren Dantian wahrgenommen und die Hände werden sensibler, empfindsamer in Bezug auf das Energiefeld und den Energiefluss. In anderen Positionen nehmen die Hände von hinten oder oben Kontakt zum Dantian auf. Der wichtigste Aspekt dieser Übung liegt in der Intention (yi , gerichtetes Denken verbunden mit der Milz), die sich, kombiniert mit dem Willen (zhi , dem mentalen Aspekt der Nieren) und dem leeren Geist (shen , der im Herzen residiert) im Unterleib zentriert – in einem Gebiet, das der größte Raum für das Ansammeln von Qi im unteren Dantian ist. Der Atem fließt natürlich und reguliert sich selbst. Die gesamte Übung dient dazu, das ursprüngliche Qi wachsen zu lassen und zentriert die Energie einer Person im unteren Dantian. Nur wenn dieses stark ist als physisches und energetisches Zentrum, können die Meridiane vollständig mit Qi geflutet werden. Wenn dieses Reservoir gefüllt ist, können die Kanäle nicht austrocknen.

Die Übung der ersten Stufe ist Yibu Gong (Übungen der ersten Stufe), ein Set von stehenden Haltungen und kleinen Bewegungen, welche auch eine Form sitzender Meditation beinhaltet. Die Wahrnehmung des Praktizierenden ist hier schon etwas feiner mit einem erhöhten Bewusstsein für die Energiefelder und den Energiefluss. Beginnend mit der Leere durch das Stehen in der Stille (wuji 无极) wirken die Schüler auf ihr Qi ein, indem sie ihre Handgelenke schütteln und in der Taiji-Position eine Vibration im ganzen Körper kreieren. Die folgenden Positionen bewirken, dass das Leber-Qi durch die Augen entweichen kann und stärken das Element Erde im mittleren Erwärmer, d.h. im Verdauungssystem. Die Armbewegung in diesen Haltungen reflektieren lediglich die innere Bewegung des geführten Qi.

Ein weiterer Schritt auf dieser Ebene ist, durch geführte Imagination den Mittelkanal vom Scheitelpunkt (Baihui 百会) oben am Kopf zum Dammpunkt (Huiyin 会阴) am Beckenboden zu öffnen. Zusätzlich dazu sind mehrere Haltungen ein Spiel mit dem Qi.

Die tiefere Bedeutung des Yibu Gong ist, dass wir per Intention, mit Hilfe unserer Geistseele (hun ) selbstsüchtige, egoistische Gedanken loslassen. Dies signalisiert dem Körper und der Körperseele (po ), dass wir per Intention annehmen, dass Geist und Körper zusammen arbeiten und diese Annahme spiegelt das Konzept wider, dass der Geist über der Materie steht. So werden die Bedürfnisse von hun und po befriedigt. Übungsnamen wie ‚Die Methode der Vereinigung des Tigers und des Drachens’ (Longhu jiaogou fa 龙虎交媾发) drücken dies aus. Mit der nachgeburtlichen Essenz zu arbeiten (houtian jing 后天精), erlaubt es dem Qi, frei zu fließen und verstärkt das Element Erde. Wenn Übende die „Mitte“ wiederfinden, bewegen sich die Emotionen in Balance und gerichtetes Denken wird kraftvoller. Das Qi wird geführt durch Intention und Imagination. Mit einem starken Erdaspekt können Praktizierende Qi ohne Beschränkung anreichern und ihre Körper produzieren reichlich Blut.

Wenn mehr und mehr Qi das untere Dantian und die Meridiane gefüllt haben, beginnt man mit dem Wuxing Gong (五行功). Hier wird der Geist zu Yin- und Yang-Organen dirigiert, um ihre innere Bewußtheit zu stärken. Äußere Bewegungen dienen lediglich dazu, die Hände vor das entsprechende Organ zu bringen, um die Sensitivität zu steigern. In dieser Form wird mit Bildern der 5 Elemente gearbeitet, wie z.B. ‚Die dunklen, kalten Wasser des Nordens füllen unsere Nieren und reinigen sie’ oder ‚Die Brise von Osten erfrischt unsere Leber’ etc. Dies harmonisiert den inneren Prozess und stärkt die Qualität von Qi. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt bis zu dem Punkt, an dem nicht nur die Meridiane und die Organe geklärt sind und mit Energie angefüllt, sondern diese Energie sogar überläuft in die außerordentlichen Meridiane.

Meister Li mit Zhang Mingrong und Gerhard Milbrat am Huashan

Höhere Ebenen

Von hier an gehen Übende zur 2. Stufe des Trainings über, bekannt als Erbu Gong, ein Set von stehenden Übungen mit Bewegungen der Arme und des Rumpfes. Während dieser Übungen wird mit mehr Präzision an den inneren Bahnen des Qi gearbeitet. Die Übenden stellen sich eine Energielinie vom 3. Auge (Tianmu 天目) durch den Schädel, die Hypophyse bis zum Spiegel der Ahnen (houtian jing 后天镜) am Hinterkopf vor und fahren ebenso fort, am Mittelkanal zu arbeiten, vom Kopf durch Kehle, Herz, das Verdauungszentrum und dem unteren Dantian, den ganzen Weg zum Dammpunkt. Dies öffnet die mittleren und oberen Dantian. Es dient auch dazu, das Sammeln von Qi durch Stärkung der Lungen zu verbessern und öffnet das Lenker Gefäß, der entlang der Wirbelsäule verläuft.

Diese Übung führt zur nächsten, nämlich dem kleinen himmlischen Kreislauf (Xiaozhoutian 小周天).

In dem das geklärte Qi durch die Lenker und Diener Meridiane mit bewusster Aufmerksamkeit geführt wird, komprimieren Übende es und bewegen es zwischen den Energiezentren und außergewöhnlichen Meridiane. Dies ist der Beginn der wirklichen inneren Alchemie, da das Qi beginnt, mit der vorgeburtlichen Essenz zu arbeiten.

Einst haben Schüler diesen Schritt kultiviert, das Qi im Körper auf verschiedenen Wegen zu führen, zu dirigieren und zu bewegen, um Qi abgeben (Faqi) und Qi aufnehmen zu lernen. Qi abgeben wird dadurch ausgeführt, dass man weiß, wie Qi angesammelt wird und es durch die Kanäle des Körpers führt, um es dann nach außen durch die Laogong Punkte in den Handflächen zu projizieren.

Wie auch die anderen Formen, verlangt dies intensives Training von 2 oder 3 Stunden pro Tag; Ebenso werden Übungen ausgeführt, um die Wahrnehmung des äußeren Energiefeldes zu steigern. Bevorzugt wird hierbei mit einem Baum gearbeitet. Auf diese Weise wiederum wird mit Qi in verschiedenen Bereichen wie z.B. der Lebenspflege, Medizin und Kampfkunst gearbeitet.

Auf der dritten Ebene des Trainings erlernt man das „Öffnen des Himmlischen Auges“ (Kai Tianmu 开天目). Hier wird die Goldene Essenz, der goldene Embryo oder die rote Perle visualisiert. Dies ist die Kombination von höchst geklärtem Yang – yi (gerichtetem Denken), starkem zhi (Willen) und einem leeren Geist shen mit dem veredelten Yin, d.h. Jing (Essenz), das durch die verschiedenen vorangegangenen Praktiken angesammelt wurde. Dies führt zu einer Körper-Geist-Erfahrung, der Worte nicht gerecht werden können, ein Zustand, der den Praktizierende über die gewöhnlichen körperlichen Begrenzungen hinaus gehen lässt. Sie sind so in der Lage, tief in sich hinein zu fühlen und zu sehen; die Energien im Körper eines Patienten zu erfühlen, wahrzunehmen und krankheitsverursachende Blockaden des Qi zu erkennen. So können auch gegnerische Absichten in der Kampfkunst wahrgenommen werden, noch bevor eine Bewegung überhaupt offenkundig stattgefunden hat.

Eine zusätzliche Übung, die die unterschiedlichen Qigong-Übungen auf allen Ebenen begleitet, ist Stilles Sitzen (Zuogong). Es beinhaltet verschiedene Arten der Meditation, wie z.B. solche, die oben beschrieben wurden und ist ruhiger, meditativer als die verschiedenen stehenden Übungen, die alle auch der Kräftigung des Körpers dienen. Während einer Stunde still zu stehen, stärkt die Beine; die Arme in einer gewissen Position vor den Körper zu halten stärkt die Arme, Schultern und den Oberkörper. Alle stehenden Übungen werden langsam durchgeführt und werden mindestens für 15-30 Minuten gehalten. Zusammen mit den Meditationen führen sie letztlich zur Erfahrung der Einheit mit dem Dao, der Erfahrung des Einsseins mit dem Ursprung allen Lebens.

All diese Übungen sind grundlegende Formen der daoistischen Lebenspflege und Lebensstärkung (yangsheng). Sie bilden das Rückgrat, den Pfeiler eines immer populärer werdenden Bereiches der daoistischen Medizin, einen Weg zur Stärkung und Verbesserung der Gesundheit und Lebendigkeit für Jedermann. Praktizierende profitieren; Lehrer verbreiten Wissen über die Wirksamkeit des Dao; Therapeuten nutzen den Wert und die Kraft der Übungen. Patienten befreien sich von ihren Leiden und Krankheiten.

Eine Qigong Behandlung

Meister Li Jiacheng, jetziger Abt des Anlegong, arbeitet mit seinem Meister Ma Fanpu intensiv daran, dieses System weiter zu entwickeln und seine Verbreitung voranzutreiben, indem er Seminare in internationalen Einrichtungen und an chinesischen Kliniken gibt, Vorlesungen und Workshops an daoistischen Konferenzen abhält und an Symposien teilnimmt. Er betreut außerdem seine chinesischen und seine über die Welt verstreuten Meisterschüler und agiert als Berater für Qualitätsmanagement im Vorstand mehrerer Zweige der Schulorganisation in Asien und Europa. Mehr und mehr Therapeuten, Lehrer und Praktizierende kommen in seine Zentren, besuchen seine Workshops und halten diese Form der daoistischen Lebenspflege lebendig.

* Porter, Bill. 1993 The Road to Heaven: Encounters with Chinese Hermits. Mercury House