Zwischen Campingplatz und „Tempelhof“

Taiji zwischen den Jahreszeiten

Anfang Januar: Angeregt durch den Artikel „Tempelpark“ von Jan und privilegiert durch die Möglichkeit, ein arbeitsfreies Jahr nehmen zu können, stellte ich einen von meinen Freunden geliehenen Wohnwagen auf einen nahe bei Lüdinghausen gelegenen Campingplatz.

Ohne berufliche Anforderungen über einen längeren Zeitraum in einem ruhigen, naturnahen Umfeld leben können, in dem schon seit zehn Jahren Taiji und Tang-Lang Sommercamps stattfinden, hatte ich mir vorgenommen, meine Taiji Grundlagen auszubauen und zu vertiefen, was kann schöner sein?

Der Wettergott war gnädig mit mir. Zwischen kurzen Regenperioden in den Wintermonaten, zeitweilig klirrender Kälte und einigen Schneetagen, postkartenähnlichen Sonnenaufgängen im Hochnebel auf der gegenüberliegenden Ostseite des alten Stichkanals, schnell dahin fliegenden Eisvögeln und nach Fischen tauchenden Kormoranen, waren früh am Morgen die Basisübungen angesagt.

Nach dem Frühstück die kurze Fahrt zum Institut, um auf dem „Tempelhof“ einige Stunden die Kernform des Taiji, die Laojia Ylu, zu üben. Ich bezeichne den gepflasterten Platz vor dem Institut ganz persönlich als „Tempelhof“, weil dieser einerseits eingebettet liegt zwischen dem Institut für Chinesische Heil – u. Bewegungskunst und hochwachsenden Gehölzen und Sträuchern. Andererseits wird der „Tempelhof“ geprägt durch die vom Institut herübergetragene, ruhige Atmosphäre, die ich im Laufe der Übungsmonate als sehr stimulierend lieben und schätzen gelernt habe.

Beim täglichen gemeinsamen Üben mit Gerhard und Hadmut über den Wechsel der Jahreszeiten hinweg, beeinflusst auch durch die unterschiedlichen Witterungsbedingungen, dankbar für Korrekturen und Anregungen in den Übungspausen, konnte ich allmählich immer besser nachvollziehen, dass die Form nur ein Werkzeug ist, um irgendwann einmal dahin zu kommen, was Taiji tatsächlich sein kann.

Neben auftretendem Muskelkater, gelegentlicher Lustlosigkeit und der manchmal auftretenden Frage: „Warum mache ich das überhaupt hier, könnte doch auch ein halbes Jahr auf La Palma bei meinem Freund leben“? entwickelte sich im Laufe der Monate eine gewisse „Taiji-Süchtigkeit“, die sich fortsetzte durch abendliche Übungsstunden mit anderen Schülern im Institut, auf dem Campingplatz oder an der Burg Lüdinghausen.

Anfang Mai: Durch die schnell hereinbrechenden sommerlichen Temperaturen entwickelte sich innerhalb weniger Wochen um meinen Wohnwagen herum eine dichte, grüne blühende Wand.

Das Gezwitscher der Vögel, das von der Kanalseite herüberkommende Geschnatter der Gänse, Enten und Wasserhühner erleichtert mir erheblich das ansonsten etwas quälende Herausschälen aus dem warmen Schlafsack. Die warme, sommerliche Morgenluft gibt dem Körper Energie und Leichtigkeit mit, also auf zu den Basis-Übungen an den Kanal.

Aber Vorsicht bei zu viel Euphorie: Nach einigen Monaten täglichen Taiji Übens fällt mir das Ausführen des äußeren Bewegungsrahmens zwar leichter, doch sind die Bewegungsausführungen aus dem Unterbauch, das richtige Positionieren der Hüfte, der Energieverlauf im Körper noch vielen Einschränkungen unterlegen. Anregungen und Korrekturen von Gerhard und Hadmut bringen mich aber immer wieder ein kleines Stück weiter auf den Weg, den Chen Xiaowang bei der Darstellung der „5 Entwicklungsstufen im Taijiquan“ so treffend beschrieben hat.

Mit zunehmender Übungshäufigkeit erschließt sich mir auch immer deutlicher der Sinngehalt der oft gehörten Aussage: „Nicht das Wissen über Tai-Ji hilft weiter, sondern nur das kontinuierliche Üben“, damit sich irgendwann über das richtige Ausführen der Formen so etwas wie Taiji herauskristallisiert.

Juli/August: Nach dem Taiji Camp in Slovenien und der damit verbundenen Möglichkeit, direkt beim Großmeister Waffe und Form zu erlernen und zu vertiefen und mit Teilnehmern aus vielen Ländern Taiji in unterschiedlichen Facetten zu erleben, konnte ich als krönenden Abschluss meines Urlaubsjahres noch zehn Tage am Taiji Sommercamp in Lüdinghausen teilnehmen.

Intensives Üben von Hand- und Waffenformen und Tuishou in Kleingruppen, abendliche Vorträge und Einführungen in vertiefende Übungen zum Taiji gaben immer wieder neue Impulse für die tägliche Praxis und rundeten meinen bisherigen Übungshintergrund wunderbar ab.

Orts- u. Rollenwechsel: Ein neues Schuljahr beginnt, der Alltag hat mich nach Wochen wieder fest im Griff. Mit einem Fuß noch auf Campingplatz und „Tempelhof“, mit dem anderen wieder im beruflichen Umfeld, schweife ich mit meinen Gedanken noch oft ab. Aber Taiji ist auch Teilbereich des ganz alltäglichen Lebens, also versuche ich weiterhin in meiner Mitte zu bleiben, ggf. auch abzuleiten und wenn nötig, auch ein wenig Explosionskraft mit in den Alltag einzusetzen. Ansonsten habe ich mir für die Zukunft vorgenommen, einfach den Worten von Großmeister Sun, Shi – Gang zu folgen: „Es gibt keine Abkürzungen, nur Fleiß führt zum Ziel“

An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei meinem Ausbilder Gerhard M. und meiner Lehrerin Hadmut M.- H. für die gemeinsamen Übungsstunden und für die um das Taijiquan kreisenden Gespräche auf dem „Tempelhof“ bedanken.

Olaf Lukowski