Die Bedeutung der Hüften für Gleichgewicht und Gesundheit
Wir Taiji Quan Praktizierenden leben doch in einer spannenden Zeit. Einerseits kommt immer mehr Know How über Taiji Quan in unser Land, zum anderen gibt es Erkenntnisse und Theorien, die auch fürs Taiji Quan interessant sind, seitens moderner Wissenschaft. Da wird um das Bauchhirn diskutiert, da man auf den Darmwänden mehr Nervenverbindungen als im gesamten Rückenmark festgestellt hat. Die Biophotonenforschung von Prof. Popp beleuchtet die Lebensenergie. Der US-Physiologe Guang-Yue vom Lerner Research Institut Cleveland hat nachgewiesen, dass Muskeln sich allein mit der Kraft des Geistes kräftigen lassen. Bei einem Test mussten sich mehrere Probanden in Gedanken regelmäßig darauf konzentrieren, wie es wäre, wenn sie bestimmte Muskelpartien ihres Körpers trainieren. Nach einer Woche hatte die Masse der lediglich meditativ bewegten Muskeln um bis zu 15% zugenommen. Die motorischen Neuronen in unseren Nerven, welche die Muskelbewegungen auslösen, lassen sich durch starke Impulse vom Gehirn stimulieren. Ornithologen entdeckten ein zweites Gleichgewichtszentrum bei Vögeln, welches in den Hüften lokalisiert wurde und letztlich den Vögeln helfen soll, „nicht von der Stange zu fallen“.
All das ist für uns Taiji Quan Übende nichts Neues. Im Bauch sein, aus ihm heraus die Bewegungen steuern und die Lebensenergie Qi mit Achtsamkeit lenken. Den Hüften, bzw. der Hüftstellung kommt beim Umsetzen der Taiji Quan Prinzipien eine zentrale Bedeutung zu. In den Hüften finden wir unser Gleichgewicht.
Zum einen dienen die beiden Hüftknochen mit dem Kreuzbein der Wirbelsäule als Fundament, die wiederum mit dem Kopf unsere senkrechte Körperachse bildet. Andererseits sind die Hüftgelenke die „Schaltstellen“ der Verwurzelung in die Erde. Über die Ausrichtung von Hüfte/Becken und Wirbelsäule arbeiten wir auf der Grundlage der Entspannung an unserer Struktur, um Energie frei fließen zu lassen. Auf dem Weg der Perfektion treffen wir oft auf Hindernisse. Hier können wir nicht richtig entspannen, dort sind wir verspannt, sind emotional nicht in Balance oder leiden unter anderem an „Unpässlichkeiten“, Schmerzen oder gar Krankheiten.
Anpassung an die Fehlhaltung
Die W.H.O. geht von 70% Wirbelsäulenfehlstellung aus. Weit mehr Menschen leiden unter einer Fehlstellung von Hüftknochen/Becken. Um die daraus resultierenden Konsequenzen und den dahinterliegenden Mechanismus zu verdeutlichen, möchte ich etwas weiter ausholen und auf folgende Gründe genauer einzugehen:
Abb. 1
Eine Fehlstellung der Hüfte/Becken bringt die Körperlängsachse aus dem Lot (Abb. 1). Der menschliche Organismus wird dieses „aus dem Lot sein“ versuchen auszugleichen. Die Schiefstellung überträgt sich in den Oberkörper und es folgt eine Herausforderung über das Gleichgewichtsorgan in den Ohren an das Kleinhirn, den Kopf unter allen Umständen wieder senkrecht zu stellen. Das Kleinhirn hat nur eine Chance, die Senkrechtstellung des Kopfes zu bewirken: Die bewegliche Wirbelsäule muss in ihrer Ausrichtung so verändert werden, damit der Kopf trotz Schiefstellung des Beckens eine Senkrechtposition einnimmt. Die ochotone Muskulatur macht es möglich, jeden einzelnen Wirbel unabhängig zu bewegen (siehe Chan Mi Gong Basisübungen). Das Kleinhirn erteilt quasi einen Dauerauftrag für Kontraktion bzw. unnormale Entspannung an die rechts und links des Wirbelkörpers liegende Muskulatur. Der so entstehende „Verkantungsdruck“ verschiebt die zwischen den Wirbelkörpern liegende Bandscheibe mit ihrem Gallertkern.
Abb. 2
Der stehende Körper eines Menschen kann sich auf der ganzen Länge der Wirbelsäule genau dem Schiefstand des Beckens bzw. der Fehlstellung der Hüfte anpassen (Abb. 2). Das Ergebnis wird, wenn die Fehlstellung nicht ausgeglichen wird, eine Skoliose sowie eine einseitige Belastung der gesamten Muskulatur sein. Steht das Becken schief, genügt ein einziger Befehl an die ochotone Muskulatur, auf die Innenseiten einer zukünftigen Skoliose sich so stark wie möglich zusammenzuziehen und diese Position mit Hilfe des verschobenen Gallertkerns eisern zu halten.
Unser Gefäßsystem ist auf so etwas nicht eingerichtet, was ständigen Muskelkater oder Verspannungen im Rückenbereich auslöst. Der zusammengezogene Muskel verhärtet seine auf Beweglichkeit durch Verkürzung ausgerichtete Wirkweise auf ständige Verkürzung. Das Ergebnis ist eine Situation, wie sie ein Tischler mit „Schwalbenschwanz“ bezeichnet, wenn er zwei Hölzer unlösbar miteinander verbinden will. Das Lendenwirbelsysndrom z.B. resultiert nach meinen Erfahrungen zu 90% aus einer Hüftfehlstellung.
Auswirkungen auf das Skelett
Wie sieht das Skelett aus, nachdem es durch Anpassung an einen Beckenschiefstand wieder in eine tragbare Statik zurückgewonnen hat? Die infolge des Beckenschiefstandes schräg zur Senkrechten stehenden Ober- und Unterschenkel müssen in ihrer Position entscheidend mitverändert werden. Vor der dringend erforderlichen Muskelanspannung stehen sie in einer nicht tragfähigen Position. Die Druckverhältnisse in allen Gelenken verändern sich. Die Belastung drückt nun einseitig in den leicht verkanteten Gelenken.
Hüftgelenksarthrose, Kniegelenksarthrose, Rippenreizung, Rippenengstand, LWS-Syndrom, Schulterschmerzen, HWS-Syndrom, Tennisellenbogen, Migräne und Spannungskopfschmerzen sind die Folgen. Natürlich sind auch die Fußgelenke schief mit einseitiger Belastung der Fußgewölbe. Um den Ausgleich zu halten, verändert sich nicht nur die ochotone Muskulatur der Wirbelsäule. Im gesamten Muskelsystem gibt es Veränderungen. Die Zugrichtung der Muskeln verändert sich. Die Hüftgelenke, ursprünglich fähig, bei jedem Schritt das Siebenfache des Körpergewichtes zur Bewältigung aller Geländeformen infolge der Krümmung des Oberschenkelhalses mit einer riesigen Gelenkfläche zu tragen, haben nur noch einen einzigen Kontaktpunkt, auf dem die ganze Last ruht. Im Kniegelenk schließlich findet die „Abschlussanpassung“ statt. Auch hier wird die Gesamtbelastung der ganzen Fläche aufgegeben zugunsten einer Punktbelastung auf der Kante. Unsere Kniegelenke sind schon ab 0,5 cm Beckenschiefstand gefährdet. Hier noch Bewegung zu empfehlen, ist vergleichbar mit Autofahren bei angezogener Handbremse.
Auswirkungen auf Organe + Nervensystem
Doch die Folgen sind viel tiefgreifender und wirken sich auch organisch aus. Die Funktion der Organe hängt von der Steuerung über das vegetative Nervensystem vom Gehirn her ab. Übermitteln von Befehlen und Aktivitätsrückmeldungen zum Gehirn sind die Nerven des Vegetativums, die über das Rückenmark und die Zwischenwirbellöcher ihre Bahn zum Organ ziehen. Die Scheiden der Nerven sind so stark mit Energie geladen, dass sie eine Meldung mit der Geschwindigkeit einer Pistolenkugel (= 200 m/Sek.) weiterleiten. Jeder Nervenstrang hat seine eigene Blutversorgung und Venen zur Entsorgung. Eine Störung der Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen im Gehirn und Rückenmark infolge einer Wirbelfehlstellung durch Skoliose, ausgehend vom Beckenschiefstand, bedeutet Fehlsteuerung und Fehlversorgung. Jede Art der Wirbelfehlstellung muss sich negativ auf das Vegetativum auswirken. Die Skoliose bewirkt eine Verengung der Wirbellöcher für den Austritt der Nerven. Fehlgesteuerte, fehlversorgte und fehlentsorgte Organe müssen krank werden.
Ursachen der Fehlstellung
Doch wie kommt es überhaupt zu einer Hüftfehlstellung/einem Beckenschiefstand, ist der ganze Becken/Hüftkreuzbeinbereich doch mit fast starren Bändern ausgestattet, um die Basis für die Wirbelsäule solide zu halten? Als akute Auslöser sind da zunächst Belastungen „gegen die Statik“ zu nennen, wie sie z.B. bei körperlicher Arbeit mit Fehlhaltungen und Angewohnheiten mit Fehlbelastung auftraten. Der akute Beckenschiefstand lässt sich mit verschiedenen Methoden beheben. Anders verhält sich das bei dem Beckenschiefstand, den viele bei ihrer Geburt verpasst bekommen haben. Die Geburt läuft nachweislich seit 4000 Jahren in der gleichen uralten Technik ab. Erst seit kurzem setzen sich langsam neue Methoden durch. Traditionell hängt der Geburtshelfer das Baby an den Beinen auf, damit Schleim aus dem Mund nicht in die Lungen gelangen kann. Wenn das Baby schreit, ist alles in Ordnung. Schreit das Baby nicht, wird ein Bein losgelassen, um den bekannten Klaps auf den Po durchzuführen. Das Baby schreit. das Körpergewicht zieht das Becken schief. Die während der Geburt hormonell „eingeweichten“ Sehnen und Bänder der Hüftknochen und des Kreuzbeins ermöglichen die Passage durch den Geburtskanal, die ein „starres Becken“ wegen seiner Breite nicht schaffen kann. Nach der Geburt aber verfestigen sich diese Sehnen und Bänder wieder, um eine solide Basis für die Wirbelsäule zu halten.
Die Auswirkungen für Taiji Quan
Eine synchrone Hüftstellung ermöglicht ein besseres Lösen und Sinken in die Erde, sowie ein Abspannen im Bauch, was eine freiere Dantian-Arbeit ermöglicht, äußere und innere Zusammenflüsse werden erfahrbar, weil das Gehirn wieder freie gewohnte Kapazitäten fürs Taiji Quan nutzen kann. Ist die Anpassungsveränderung an den Schiefstand auch nur gering, so bewirkt sie doch, dass Energiebahnen mit hohem Energiepotential umgeleitet werden und so z.B. Organe schädigen können. Eine tiefe Entspannung und Lösung, die Grundlage für innere Ruhe, wird auch durch kleinste Ausgleichsspannungen der Muskulatur gestört. Eine mögliche Störung der Sauerstoffzufuhr führt mindestens zu Achtsamkeitsdefiziten.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt in unserer Taiji Quan Ausbildung wird ein Weiterkommen mit gesunder Hüftstellung die tieferen Aspekte unserer Kunst erfahrbar machen.
Therapien
Der deutsche Heilpraktiker Günter Thenee hat in den 70er Jahren eine Therapie zur dauerhaften Behebung eines Beckenschiefstandes entwickelt und maßgeblich den Lehrstoff in Hebammenschulen beeinflusst. Der 1917 geborene Japaner Kimiyoshi Isogai war einer der ersten wenigen Mediziner, die Ursache und Folgen einer Hüftfehlstellung klinisch erforschten. Öffentlich kaum wahrgenommen, entwickelte sich die Isogai Dynamik Therapie zum Geheimtipp unter östlichen Therapeuten. Die Übungen dazu sind einfach und in der Regel selbständig auszuführen.
Natürlich ist auch Taijiquan selbst eine Therapie und wir sind letztendlich aufgefordert, auch hier Eigenverantwortung zu übernehmen und neben dem „Was“ oder „Wie“ unseres Empfindens und Befindens auch nach dem „Warum“ und „Woher“ zu fragen und als Auslöser auch die Hüftstellung in Betracht zu ziehen.
Gerhard Milbrat