Taijiquan und Qigong als Beitrag zu ganzheitlicher Erziehung

Eine beispielhafte Entwicklung

Während man selbst in Taijiquan-Hochburgen wie Hamburg noch LehrerInnen antrifft, die so gut wie nichts von den chinesischen Bewegungskünsten wissen, gibt es andere Orte, an denen diese bereits erfolgreich Einzug in die Schulen halten. Gerhard Milbrat, der in Lüdinghausen eine Schule für chinesische Heil- und Bewegungskunst leitet, berichtet von der zunehmenden Offenheit gegenüber ganzheitlichen Bewegungskonzepten, die auch durch neue Rahmenvorgaben für den Schulsport gefördert wird. Er und seine MitarbeiterInnen arbeiten mit verschiedenen Schulen zusammen und vermitteln dort vor allem im Rahmen des Sportunterrichts und von Projektwochen Elemente aus Taijiquan, Gongfu, Qigong und Tuina, aber auch aus der angewandten Kinesologie und der Edu-Kinesthetik. Der Ansatz ist pragmatisch, er soll den Kindern und Jugendlichen alltagstaugliche Kompetenzen vermitteln. Ein klares Regelwerk wie in den traditionellen Kampfkünsten erweist sich dabei als hilfreich.

In einer Publikation der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft heißt es: „Hibbelige, zappelige Kinder, krummbucklige Jugendliche, eingezwängt zwischen engen Tischreihen, platziert auf für die langen Beine viel zu niedrigen Stühlen, kleine Klassenräume für viele Schüler, zu wenig Bewegungsangebote in den Pausen, häufig ausfallender Sportunterricht. Da darf man sich nicht wundern, dass die Bewegungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen zunehmen. Darauf weisen nicht nur aktuelle Gesundheitsstudien hin. Schon bei der Einschulung stellen Amtsärzte fest, dass vielen Kindern gezielte Bewegungen schwer fallen. Doch Bewegungsmangel führt bei den Heranwachsenden nicht nur zu Haltungsschäden und motorischen Störungen, er wirkt sich auch negativ auf Lernen und Leistungen aus.“ Aber es tut sich was, neue Schulformen und Schulstufen entwickeln sich und zielen auf ganzheitliche Erziehung. Und es wird immer mehr möglich, Taijiquan und Qigong in Schulen zu unterrichten und zu etablieren, etwa durch die neuen Rahmenvorgaben für den Schulsport.

Als pädagogische Leitidee des Schulsports wird folgender Doppelauftrag formuliert: Entwicklungsförderung durch Bewegung, Spiel und Sport sowie Erschließung der Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur.

Die Bewegungen, um die es im Schulsport geht, spiegeln immer auch soziale Bezüge, Emotionen, Motive, Wahrnehmungen sowie Wertvorstellungen wider. Insofern verdienen Unterrichts- und Erziehungsprozesse im Schulsport nachträglich das Attribut „ganzheitlich“, so das Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen in den Richtlinien für den Schulsport.

Bei einem Blick in die Geschichte der Pädagogik stellt man fest, dass sie den Menschen immer in der Dreiheit Geist-Psyche-Leib gesehen hat, aber meist eine einseitige Gewichtung vornahm. „Es ist eine Crux der Pädagogik schlechthin, dass sie Seelisch-Geistiges stets überbewertet, die Leiblichkeit oder Körperlichkeit höchstes als Transformator benützt und diese nicht als wesentlichen Inhalt von Erziehung anerkennt“ (Fischer, 1981, zitiert nach: Ludwig Faltermeier: Sport macht lebendig. Serie Sonderpädagogische Praxis, Dürr Verlag).

Lernen geschieht aber nicht nur im Kopf. Nicht zuletzt die Kinesiologen haben die Zusammenhänge von Bewegung, neuralen Vernetzungen und Lernen wissenschaftlich erforscht und Bewegungsübungen entwickelt, welche eine Synchronisation beider Gehirnhälften anstreben. Taiji- und Qigong-Übungen bieten Wege zur Mitte, zum Selbst, um vor allem das „innere Getrenntsein“ zu überwinden.

Ein Starkes Dantian als Gegengewicht zu rauchenden Köpfen

Unser Alltagsbefinden und –verhalten ergibt sich in der Regel aus zwei Bereichen, ich nenne sie Erlebnisräume, nämlich Gedanken und Gefühlen, Logos und Emotionen. Wie bei einem Pingpong-Spiel spielen wir den Ball zwischen Kopf und Herz, unser Zentrum im Unterbauch wird vernachlässigt. Dieses Ungleichgewicht verursacht oder verstärkt viele der Probleme, denen wir bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen begegnen. Ist der Kopf zu voll, wird das Denken sehr anstrengend, Konzentration ist nahezu unmöglich. Eine Überfülle im emotionalen Bereich macht reizbar und aggressiv. In vielen Klassenzimmern herrscht alles andere als eine Lernatmosphäre. Zumindest Lernbehinderte oder verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche sind nicht ruhig, nicht aufmerksam und sind sehr störanfällig. Das Vermitteln von Übungen sollte den Situationen der SchülerInnen mit unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden.

Ob die SchülerInnen das Vermittelte annehmen, ist vor allem davon abhängig, wer unterrichtet. Können der Lehrer oder die Lehrerin Faszination und Motivation wecken? Sind die vermittelten Übungen alltagstauglich? Lassen sie sich als Regulativ auch im normalen Unterricht anwenden? Orientieren sie sich an der Lebenswirklichkeit der SchülerInnen? Kommen sie dem Bewegungsdrang der Kinder entgegen? Knüpfen sie an der Vorstellungswelt der Kinder an?

Unterschiedliche Schulformen wie Grund-, Haupt-, Real- und Gesamtschule, Gymnasium, Internat oder Sonderschulen für Kinder mit geistigen oder Lernbehinderungen machen unterschiedliche Strategien und Konzepte nötig. Frau Karin Göbel von der Ludgeri Grundschule Selm beispielsweise wendet in den verschiedenen Unterrichtsstunden Methoden aus der Edu-Kinesthetik, der Akupressur, aus Qigong und Taijiquan an, um die Kinder für sich, ihr Gegenüber, die Natur, das Leben zu sensibilisieren. Sie benutzt Phantasiereisen und Wahrnehmungsaufgaben, um in die Stille zu kommen und die Sinne der Kinder zu entwickeln. Thomas Vieth vom Kaiserin Augusta Gymnasium Köln installierte eine „Kung Fu AG“, um einen persönlichen Rahmen zu schaffen, in dem er und seine Schüler miteinander umgehen können, ohne die nötige Distanz zu verlieren.

„SchülerInnen werden offener und erzählen mehr über ihre Ängste und Probleme. Erlebtes kann so gut aufgegriffen werden und aufgearbeitet werden, so dass man das Konfliktverhalten der SchülerInnen positiv beeinflussen kann. SchülerInnen können aus ihrer Opfer- oder Täterrolle herausgeholt werden. Das Aufdecken von Stärken und Schwächen unterstützt die Identitätsfindung. Die Geschlechterförderung kann positiv beeinflusst werden, da falsche ‚Geschlechterrollen’ hinterfragt werden“, so Thomas Vieth.

Oft muss man Übungen teilnehmergerecht verändern, damit sie überhaupt angenommen werden können. In einer Klasse mit lernbehinderten Kindern etwa wurden bunte Tücher zu Hilfe genommen, um mit den Armen kreisende Bewegungen auszuführen. Im Kreis aufstellen? Gar nicht so einfach umzusetzen. Also fassen wir uns bei den Händen, um so etwas wie einen Kreis hinzubekommen. Das Lehrpersonal ist hier aufgefordert mit Fingerspitzengefühl zur rechten Zeit eine geeignete Übung anzubieten und in der richtigen Sprache zu vermitteln.

Körperbewusstsein und soziale Kompetenzen entwickeln

Die Zielvorgaben für ganzheitliche Erziehung an den Schulen sind individuell gewichtet, beinhalten jedoch meist allgemeine Bewegungsschulung, Koordination von Bewegungen, Konzentrationsförderung, Steigerung des Selbstwertgefühls, zur Ruhe kommen beziehungsweise Ruhe ertragen, in der Gruppe zu lernen, partnerschaftlich und höflich miteinander umzugehen, Sozialverhalten und Sozialkontakte zu entwickeln.

Taijiquan und Qigong entsprechen diesen Zielsetzungen und sind zudem sehr kostengünstig, da keine speziellen Sportgeräte oder Räume benötigt werden.

Insbesondere Partnerübungen erfüllen die Anforderungen der neuen Richtlinien. Bei der Begegnung mit direktem Körperkontakt wie beim Tuishou, aber auch im Judo, Ringen oder Sumo, steht das Miteinander im Vordergrund. Kinder und Jugendliche haben das Bedürfnis zu rangeln und ihre Kräfte zu messen. Dies ist für die psychische, soziale und körperliche Entwicklung bedeutsam. Zum Beispiel verhelfen freie Tuishou-Übungen gerade körperlich Schwächeren zu Erfolgserlebnissen, was sich positiv auf das Selbstwertgefühl auswirkt.

Im Miteinander kann sich Respekt den anderen gegenüber entwickeln und der Körper erhält Wachstumsstimulationen. Viele Techniken aus den normierten Zweikampfsportarten müssen zunächst kooperativ unter besonderer Betonung der gegenseitigen Verantwortung gelernt und geübt werden. Das setzt umfangreiche Verständnisprozesse voraus. Das Spüren von Emotionen der PartnerInnen wie Angst, Siegeswille oder Fürsorge erfordert in besonderem Maße Einfühlungsvermögen.

Häufige Partnerübungen und Zweikämpfe bauen Berührungsängste ab und fördern die Akzeptanz des eigenen Körpers, was vor allem in der Pubertät bedeutsam ist. Dafür bieten sich Unterrichtsvorgaben an wie „spielend kämpfen“, „sich im Zweikampf erfahren“, „sich fallen lassen und gehalten werden“, „kooperative Lösungen in Zweikampfsituationen entwickeln und im kontrollierten Wettkampf anwenden“.

Lebendiges Verständnis von Yin und Yang

Eine Übung, die ich Augenschulung nenne, lässt einen Partner Schläge zum Gegenüber ausführen, welche der oder die andere „fangen“ soll. Der „Schläger“ beziehungsweise die „Schlägerin“ ist aber LehrerIn des „Fängers“ beziehungsweise der „Fängerin“. Das heißt, dass der Schläger seine Schläge den Reaktionsfähigkeiten des Fänger anpasst. Das Kind, das fängt, wird nicht überfordert, es bekommt ein gutes Gefühl, weil es ja fangen kann. Das Kind das schlägt, lernt sich zu kontrollieren und zurückzunehmen. Zudem kann es seine „Schülerin“ oder seinen „Schüler“ zu besseren „Leistungen“ führen, indem es kontrolliert schneller schlägt.

Unterricht von Taijiquan und Qigong muss sich nicht nur auf den Schulsport beziehen. So konnte ich die Essenz diese Künste auch im Biologie-, Religions- oder Physikunterricht als geladener Dozent vermitteln. Das Yin/Yang-Denkmodell bietet viele Möglichkeiten beispielsweise biologische Vorgänge zu erklären: Ein- und Ausatmen, arterieller und venöser Blutkreislauf, Herzschlag, Stoffwechsel und Verdauung, Wach- und Schlafzustand. Das „In-die-Ruhe-Eintreten“ oder das Herz beruhigen zeigen viele Parallelen zum Gebet. Das „Dao der Physik“ wurde von Friedjof Capra in seinem gleichnamigen Buch detailliert beschrieben.

Mit einigen Klassen findet ein mehrjähriger Austausch statt. Mal gehe ich in die Klassen, ein anderes Mal besuchen die Klassen mich im Institut für chinesische Heil- und Bewegungskunst. Viele, die bei mir gelernt haben, sind mittlerweile LehrerInnen an verschiedenen Schulformen und integrieren Übungen in ihren regulären Unterricht. Sind die SchülerInnen zum Beispiel unruhig und aufgekratzt, gelingt es ihnen mit entsprechenden Übungen Ruhe einkehren zu lassen oder entgegengesetzt neue Vitalität zu wecken.

Klare Orientierung durch Rituale und Traditionen

Taijiquan und Qigong an Schulen ist kein neues Phänomen. Weltweit werden Taijiquan und Qigong als Wege benutzt, um ganzheitliche Erziehung umzusetzen. Erfahrungsberichte unter anderem aus den USA, China, Deutschland und Korea zeigen, wie wertvoll klassische Übungssysteme in der Anwendung in unserer modernen Zeit mit ihren Problemen sind. Taijiquan und Qigong sind physisch und mental herausfordernd und effektive Methoden zur Stressabbau.

Bewegungen wie im Taijiquan langsam und kontrolliert auszuführen stellt eine große Anforderung an Ungeübte dar. Der Körper als „Boot“ und der Geist als „Steuermann“ lernen zusammenzuarbeiten. Das „In-den-Bauch-Fließen“ schafft Raum in Kopf und Brust, wir werden ruhige. Kinder und Jugendliche erfahren großen Stress in der Schule, in der Familie und in anderen persönlichen Beziehungen. Stress ist bekanntermaßen eine Ursache für psychosomatische Erkrankungen und auch Lerndefizite.

Taijiquan als klassische Kampfkunst beinhaltet eine Vielzahl anwendbarer Inhalte für den Unterricht an Schulen. Gerade Kinder sprechen sehr gut auf die Wirkungen von Taijiquan und Qigong an. Um diese Künste zur vermitteln, sollten feste Rituale beim gemeinsamen Üben installiert werden. Gerade bei lernbehinderten SchülerInnen führt die Orientierung an Ritualen zu den eigentlichen Übungen hin. Der Unterricht, den ich mit meinen MitarbeiterInnen durchführe, orientiert sich stark an den Regeln der traditionellen Kampfkunstschulung, worauf Kinder und Jugendliche gut ansprechen. Geduld, Fleiß, Bescheidenheit, Höflichkeit, Ausdauer, Respekt, Mitgefühl, Achtsamkeit, Ernsthaftigkeit, Disziplin, Loyalität sind einige der traditionellen Zielsetzungen.

Wichtig ist, die Regeln sowie deren Bedeutungen und Zielsetzungen den jungen Menschen zu erklären und deren Einverständnis einzufordern. Warum grüßen wir die Übungshalle an? Warum stellen wir uns in Reih und Glied auf? Warum sprechen wir während der Übungen nicht miteinander? Erkennen die SchülerInnen, dass es kein militärischer Drill ist, der sie in Reih und Glied stehen lässt, sondern der Achtsamkeit und der Selbstdisziplin sowie der besseren Übersicht dient, achten sie gerne darauf, ihren Platz zu finden.

Vielfältige Methoden werden genutzt

Die vermittelten Übungen entstammen dem Taijiquan, dem Gottesanbeterinnen-Gongfu und dem Qigong. Zudem fließen Methoden aus der angewandten Kinesologie, der Edu-Kinestetik, Tuina sowie Atemschulung in den Unterricht ein. Durch unsere Kooperation mit der Kreispolizeibehörde erhalten wir Material zu den Themen Gewalt, Mobbing, Selbstbehauptung und Konflikttraining, auf deren Grundlage wir Gespräche und Rollenspiele durchführen.

Eine Unterrichtseinheit von anderthalb Stunden enthält immer spielerisches Auflockern, Dehnung und Gymnastik, Koordinationsübungen, Reflextraining, Seh- und Tastschulung, Partnerübungen, Zweikampfübungen, Atem- und Meditationsübungen sowie Zeiten, um miteinander zu sprechen. Bei allem Anspruch sollen Spaß und Spiel nicht zu kurz kommen. Kurze Vorträge in regelmäßigen Abständen in Kursen, die im Institut laufen, sowie in den Schulen bieten ergänzendes Wissen beispielsweise über Medizin, Pflege des Lebens und Ernährung. An dem zusätzlich vermittelten Wissen lässt sich immer wieder gut anknüpfen.

Zur Optimierung unserer Arbeit zielen wir auf Vernetzung und Interaktion mit Schulen und Familien, was in einigen Fällen hervorragend funktioniert. Eltern geben Rückmeldungen zur Lernentwicklung und dem Verhalten der Kinder gegenüber Geschwistern, LehrerInnen bitten um Mithilfe zum Beispiel in Projektwochen.

Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beinhaltet bei uns zusätzlich ständige eigene Fortbildung, regelmäßige Teambesprechungen und Supervision. Taijiquan und Qigong mit Kindern und Jugendlichen ist eine sich ständig wandelnde Arbeit, die allen Beteiligten Möglichkeiten der ganzheitlichen Entwicklung bietet.

Für mich ist die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sehr anregend und befriedigend, da die SchülerInnen recht schnell zu alltagstauglichen Ergebnissen kommen und ich ihre Entwicklung über Jahre begleiten darf. Taijiquan und Qigong fördern ihr Haltungs- und Bewegungsbewusstsein, harmonisieren Geist und Psyche, stärken emotional und körperlich und insbesondere das Rückgrat. Menschen ohne Rückgrat haben wir schon genug.

Gerhard Milbrat