Die Tradition in den chinesischen Kampfkünsten

Zur Bedeutung der Begriffe Tradition und traditionell wird in Fachkreisen lebhaft und kontrovers diskutiert, Mißverständnisse über deren korrekte Anwendung und Definition sind an der Tagesordnung. Auf der einen Seite sind die Traditionsgegner davon überzeugt, dass sich jegliches Traditionsgehabe lähmend auf ihre Kampfkunst auswirkt. In der Tat treibt falsches Traditionsverständnis in Kampfkunstkreisen bei manchen Lehrern und Schülern schillernde Blüten.

Im anderen Extrem halten Traditionalisten an der „Tradition“ fest, ohne kritisch zu hinterfragen, warum sie sich ihr verpflichtet fühlen – einfach „weil es schon immer so war“. Derartige traditionalistische Scheuklappen verhindern einen Blick über den eigenen Tellerrand und erleichtern es nicht gerade, weiter zu lernen und sein Wissen sowie sein jeweiliges Können zu ergänzen.

Prägende Einflüsse auf die Tradition in den Kampfkünsten kommen vor allem aus dem Buddhismus, dem Konfuzianismus und dem Daoismus. Man kann sagen, dass mit dem historischen Wandel, den unterschiedlichen Dynastien und Herrscherhäusern sich auch die traditionellen Eigenheiten in Gesellschaft, Politik, Familie und auch in der Kampfkunstschulung gewandelt haben.

Viele der traditionellen Verhaltensweisen, Regeln und Methoden haben in China die Kulturrevolution nicht überlebt. Außerhalb der VR China, in südostasiatischen Ländern wie Taiwan, Singapur, Malaysia, Hongkong, Korea und Japan, in Ländern also, wo sich zahllose chinesische Emigranten niederließen, sind die Erfahrungen von Generationen durch die Traditionspflege lebendig gehalten worden.

Viele der Verhaltensregeln sollen Moral, Höflichkeit und Respekt im Umgang mit der Natur, den Menschen, den Meistern und Lehrern sowie den Mitschülern fördern. Die am meisten verbreitete Art der Respektbezeugung ist der Handgruß (Bao quan). Diese Geste drückt Willkommensein sowie Dankbarkeit und Ehrfurcht aus. Sie besteht aus einer zur Faust geballten rechten Hand, die von der offenen Handfläche der linken Hand umschlossen wird. Die Interpretation der Geste ist vielschichtig. Die geballte, aggressive Faust wird von der friedlichen, weisen Hand kontrolliert, gebremst.

Alle Regeln der Etikette zielen auf die Förderung von Aufmerksamkeit, Bescheidenheit, Geduld, auf Respekt und Höflichkeit. Kriterien, wonach Schüler ausgewählt werden, sind: offener Geist, Hilfsbereitschaft gegenüber Schwächeren, Lernwillen, Toleranz, Friedfertigkeit, Folgsamkeit und die Bereitschaft, die Kultur und dazugehörige Zeremonien anzunehmen und zu praktizieren.

Ein traditioneller Meister oder Lehrer ist nicht einfach nur ein Trainer, den man beliebig austauschen und konsumieren kann, sondern im Idealfall ein väterlicher Lehrer (Shifu). Viele Schüler nennen ihre Lehrer Shifu, was im traditionellen Sinne eigentlich nicht korrekt ist. Angebrachter wäre hingegen, bei der Anrede dem Familiennamen den Titel Laoshe anzuhängen (Laoshe = Lehrer). Die traditionelle Lehrer-Schüler-Beziehung ist eine sehr enge familiäre Bindung. Der Schüler lebt mit dem Lehrer zusammen, als wenn er vom Meister adoptiert worden wäre. Sie teilen den Alltag miteinander und nutzen ihn mit seinen Situationen für Lektionen zum Verhalten und zur Weltanschauung. Nur der „adoptierte“ Schüler nennt seinen Lehrer oder Meister Shifu.

Das Vermitteln von kampfspezifischen Methoden und Techniken ist in einer solchen Beziehung nicht das zentrale Anliegen. Vielmehr sollen Charakter und Körper in holistischer Weise geschult werden. Im alten China sorgte der Schüler für seinen Meister in Form von Hilfe zum Lebensunterhalt, bei alltäglicher Arbeit, auf gesundheitlicher Ebene und bei den Verpflichtungen des Lehrers. So war gewährleistet, dass der Meister durch diese Entlastung zumindest Zeit für den Kampfkunstunterricht hatte.

Eine optimale Lehrer-Schüler-Beziehung ist geprägt von Vertrauen und ist immer eine familiäre Bindung mit allen Konsequenzen. Aber auch die Möglichkeit des Mißbrauchs von Abhängigkeiten war und ist in einer Kampfkunstausbildung gegeben. Für den Kampfkunstschüler der heutigen Zeit, besonders für den Nichtasiaten, ist es sehr schwer, sich auf so vielen Ebenen zu öffnen und wirkliches Verständnis über eine traditionell geprägte Kampfkunst zu erlangen.

Aus der Vielzahl der Angebote das für sich Passende zu erwählen, die Bereitschaft zum „bitteren Essen“, einen wissenden, kompetenten Lehrer zu finden, überhaupt sich die Zeit für das langjährige, tägliche Üben zu nehmen sind nur einige Schwierigkeiten, denen sich der Kampfkunstschüler stellen muss.

Viele gehen lieber einen „zeitgemäß schnellen“ Weg und machen Kompromisse, die sie jedoch nicht auf den „richtigen“ Weg bringen. Die Masse der Kampfkunstübenden trainiert unregelmäßig und gibt sich mit Halbwissen zufrieden. In dem Glauben, schnell voranzukommen und ebenso schnell „jemand zu sein“, werden so viele Formen wie möglich „gekauft“. Die Devise „Quantität statt Qualität“ verbirgt sich im Supermarkt der Kampfkünste. Das trügerische Motto lautet „sein statt zu werden“.

Der traditionelle Kampfkunstschüler wird immer aufmerksam gegenüber seinem Lehrer und seinen Mitschülern sein. Er wird dafür sorgen, dass sein Lehrer sich zuerst setzen kann, zuerst durch eine Tür geht, zuerst trinkt und isst. Der Meister ist damit zufrieden, wenn er sieht, dass der Schüler an diese Dinge denkt. Er fordert dieses Privileg nicht ein, sondern ist seinerseits bemüht, den Umgang miteinander freundlich und entkrampfend zu gestalten. Er sorgt ebenfalls dafür, dass es dem Schüler an nichts mangelt.

Viele Leiden und Qualen des modernen Menschen resultieren aus dem Verlust bewährter traditioneller Werte. Die Ex-und-Hopp-Mentalität, sofort Erfolg, Profit, Ruhm und Ehre haben zu wollen, sich selbst der Nächste zu sein sowie die Profilierungssucht vieler scheinen wichtiger zu sein als die Erhaltung sinnvoller Tradition. Diese wird als „Muff aus vergangenen Jahrhunderten“ geschmäht und als unsinnig und zeitgemäß abgetan.

Der moderne Mensch wird zunehmend unsensibler, egoistischer, beziehungsunfähiger, liebloser und kann – oder will – kaum noch Verantwortung übernehmen. Die Ergebnisse seriöser traditioneller Kampfkunstschulung zeigen, dass Kampfkunst ein Weg zum besseren Selbstverständnis und einem menschlicheren Miteinander sein kann und dass sie den ernsthaft Übenden in die Lage versetzen kann, sich selbst und sein eigenes Leben zu meistern. So gibt es auch in unserer von Konsum und oberflächlichem Schein geprägten Zeit noch einige Individualisten, die die Fackel der Tradition in den Kampfkünsten vor dem Erlöschen bewahren und weitergeben, anstatt nur die Asche aufzubewahren.

Text: Gerhard Milbrat