Essay von Gerhard Milbrat
„Bitter Essen können“ ist eine der Voraussetzungen, um Kung Fu zu bekommen. Aber ehrlich gesagt, wer isst schon gerne freiwillig bitter? Um aber seine Fertigkeiten in der Kampfkunst optimieren zu können, ist viel Arbeit nötig. Ein wesentlicher Teil dieser Arbeit besteht aus Qi Gong Übungen, um innere Kraft, Ruhe und Gelassenheit zu erlangen.
Nun gibt es eine grobe Einteilung in innere und äußere Kampfsysteme und es entsteht der Eindruck, dass äußere Systeme keine innere Arbeit wie Qi Gong nötig haben. Jedoch ist es wohl aber so, dass hart und weich, innen und außen harmonisiert sein sollen. Gerade im Kung Fu, auch im Shaolin Kung Fu, ist es notwendig, Yin und Yang in Form und Anwendung durch richtiges Üben auszugleichen.
Eine der bittersten Übungen der inneren und äußeren Kung Fu Stile ist wohl das Stehen. Die Qi Gong Übungen des Stehens kann man grob in zwei Methoden unterteilen. Das passive Stehen und das aktive Stehen. Beide Arten sind fundamentales Training, um Kraft, Gesundheit sowie die Muskel- und Sehnen-Metamorphose zu erlangen. Es wird unterschieden zwischen Übungen, die Qi (Energie) fördern und Jing (Essenz) trainieren.
Das passive Stehen im Kung Fu
Gerade beim passiven Stehen (Zhan Zhuang), wobei man bewegungslos in spezifischen Bein- und Armhaltungen mindestens 20 Minuten verharrt, sind Ergebnisse nicht direkt festzustellen. Dies veranlasst einige Kampfkünstler zu denken, dass sie ihre Zeit verschwenden. Wie auch immer, der Erfolg des Zhan Zhuang als Trainingsmethode gerade in den inneren Kampfsystemen wie Tai Ji Quan, Ba Kua Zhang und Xing Yi Quan ist erwiesen. Viele der alten Großmeister dieser Systeme haben vielleicht keine Zeit, Formen oder Pushings zu üben, aber sie finden immer Zeit für die stehende Meditation und die Gründe sind einleuchtend: Gesundheit fördern, Kampfkraft und Energie entwickeln bzw. erhalten. Die Beine sind das Fundament von Kraft. Sie stärken aber auch den gesamten Körper. Beim Minimum-Zeitaufwand von 20 Minuten erhält man die Gesundheit und Kraft, beim Maximum-Aufwand macht man auch im Alter Fortschritte in Qi- und Jing-Entwicklung. Auch die Kampfsysteme der äußeren Schule profitieren wesentlich von diesen Übungen und beinhalten diese auch. Die harte Schule der Shaolin lässt die Schüler bis zu 3 Stunden im 100° Grad Reiterstand bewegungslos stehen. Bitter, sehr bitter für den Freizeit-Kampfkünstler in den Wohlstandsländern. So extrem stehen muss ja nicht von jedem durchgezogen werden. Der Minimum-Aufwand von 20 Minuten sei jedenfalls empfohlen.
Das aktive Stehen im Kung Fu
Nicht ganz so bitter erscheint das aktive Stehen. Dabei werden je nach System stilspezifische Armbewegungen und auch Standwechsel mit vertieftem Körperschwerpunkt ausgeführt. Im Chen Tai Ji z.B. gibt es u.a. das Reeling Silk (San Si Gong), im Mei Hua Tang Lang heißen diese Übungen z.B. Da Ba She und Xiao Ba She. Jede Familie hat ihre eigenen Übungen. Man kann auch Formen wie aktives Stehen üben, dabei sollte man tief und langsam üben. Übt man schnell, trainiert man eher Kondition und Aussenkraft. Das Qi aber verstreut sich. Anstatt im unteren Dantian gesammelt zu werden, steigt es nach oben. Der Effekt ist, dass man außer Atem ist, nervöser, reizbarer und aggressiver wird. Nun mag man einwenden, dass äußere Kraft auch entwickelt werden sollte, was auch stimmt. Ist aber ein aggressiver Kämpfer ein besserer Kämpfer oder gar ein Kampfkünstler? Mal ehrlich: Hat jemand ein Kämpferherz, ist aggressiv und skrupellos, muss er dann noch Kampfkunst trainieren, um sich im Kampf zu behaupten? Wir sehen dies bei Straßenkämpfern, die mit oben genannten Eigenschaften ausgestattet so manchem Kung Fu Kämpfer gezeigt haben, wie man mit Brutalität gewinnen kann.
Wir, die Kung Fu Trainierenden streben zu der Kampfeffektivität zusätzliche Ziele an. Zu siegen ohne zu kämpfen, sich auch geistig und spirituell zu entwickeln, friedlicher zu werden.
Wir wissen, dass die Art der Haltung und Bewegung auch auf unsere Psyche wirken und wir zielen darauf Gesundheit, Selbstvertrauen, Selbstbehauptung, Ruhe und Gelassenheit zu fördern. Ohne Kampfkunstspezifisches Qi Gong können wir sicher schnell auf die Ebene des Kampfes kommen, d.h. schnell Fortschritte im Kämpfen machen. Um höhere Stufen der Kampfkunst zu erreichen, wird das Integrieren von Qi Gong notwendig und alle Generationen der Meister belegen dies. Passive und aktive Stehübungen sind deshalb in den Kampfkünsten fest etabliert. Aber es muss auch gesagt werden, dass gerade für Anfänger und mittlere Fortgeschrittene das Stehen nicht ausreicht und stilspezifische Technik, Kraft, Schnelligkeit, Distanz usw. trainiert werden muss. Die Kampfkunstlehrer sollten wissen, dass dicke Arme und ein richtiger Wums nicht das einzige Ziel einer Kampfkunstausbildung sind. Auch kann nicht jeder Schüler richtig damit umgehen. Soldaten bekommen ohnehin ein andere Kampfausbildung. Ziel der Kampfkunstschulen ist doch, einen Beitrag zu leisten, damit wir Menschen uns weiter entwickeln, damit die Welt friedlicher und nicht aggressiver wird. Entscheidet einfach selber, was ihr wollt oder to stand or not to stand.
Literaturtipps
Ansara Verlag – Mantak Chia – Eisenhemd Qi Gong
Mosaik Verlag – Daniel Ried – Qi Gong
Knaur Verlag – Wong, Kiew-Kit – Die Kunst des Qi Gong
Inside Kung Fu – Doc, Fai-Wong – Training zu Stand
Goldmann Verlag – Requena, Yfes – Qi-Gong
Text: Gerhard Milbrat