Taiji Quan-Form als Werkzeug zum Entwickeln der äußeren und inneren Struktur und Kräfte
Taiji Quan, eine alte chinesische Kampfkunst, hat sich in den letzten Jahren weltweit verbreitet und etabliert. Millionen Menschen wissen „was“ sie üben, aber nur wenige erreichen ein praktisches Verständnis von Taiji Quan und wissen „wie“ sie üben sollten.
Zum einen liegt es sicherlich daran, dass die meisten Menschen persönliche Hindernisse mitbringen, die ein Eintauchen in die Essenz des Taiji Quan verhindern. Diese Hindernisse resultieren aus dem mentalen, emotionalen und körperlichen Begebenheiten, welche jeder Mensch mit sich bringt.
Um diese Hindernisse besser verstehen zu können, müssen wir die Situation des modernen Menschen besser verstehen. Der Zeit- und Erfolgsdruck steigt stetig an, wir stehen unter Stress. Diesen verstärken wir mit „Multitasking“, d. h. zur gleichen Zeit beschäftigen wir uns mit mehreren Dingen, z.B. Autofahren und Geschäfte übers Telefon abwickeln. In immer kürzerer Zeit erledigen wir immer mehr. Wir Menschen scheinen dies auch zu wollen um mehr Zeit herauszuarbeiten. Unsere Aktionsräume sind Kopf/Gedanken und Brust/Emotionen. Der Wechsel zwischen beiden gestaltet unser Leben.
Dabei verlieren wir unsere Mitte sowie unsere Wurzel/Bodenhaftung. Was bleibt, ist Sehnsucht und Suche nach Ruhe, Abspannung und ein in sich getragen sein. Der Zulauf nach sog. esoterischen Methoden bestätigt diese Suche. Millionen Menschen suchen Ruhe, Mitte und Wurzel im Taiji Quan.
Zum anderen mangelt es oft am Verständnis der Lernmethode. Wenn ich von A nach B reisen möchte, wird es einfacher das Ziel zu erreichen, wenn ich eine Karte habe. Beim Lernen von Taiji Quan wird diese sogar noch dringlicher. Beim Lernen von Taiji Quan verhält es sich so wie beim Schießen. Bin ich beim Zielen einige Millimeter daneben, so bin ich am Ziel meterweit daneben. Das bedeutet, dass ich mich beim Lernen von Taiji Quan exakt an eine klare Lernmethode halten sollte und den Lehrer wirklich verstehen sollte. Kleinste Missverständnisse bergen das Potenzial, mich vom eigentlichen Ziel zu entfernen.
Beim Lernen von Taiji Quan verhält es sich so wie beim Schreiben lernen. Zunächst erlerne ich das ABC, um dann Worte und Sätze zu bilden. Mit der Grammatik vertiefe ich dann das Erlernte, um später zur freien Anwendung der Schriftsprache zu kommen.
Am Anfang stehen die so genannten Schönschreibübungen. Mein ABC sieht so aus wie das von meinem Nachbarn. Mit zunehmender Sicherheit und Geübtheit entwickele ich meine eigene Handschrift, das Geschriebene sollte aber noch lesbar sein.
Der Taiji Quan Übende wird also zuerst entspannen und still werden müssen. Um eine gute Qualität der Entspannung zu erreichen, wird er über Haltungskorrektur zur Muskel-Sehnen-Entspannung und weiter zur inneren Ruhe kommen müssen. Die äußere Haltungsstruktur ist eng mit der inneren Haltungsstruktur verknüpft. Die Übungen dazu sind Wuji Zhuang und Zhan Zhuang-Gong. Hierbei ist die individuelle Haltungskorrektur durch einen qualifizierten Lehrer unabdingbar. Ist der Halte-Stütz-Apparat so korrigiert, dass alle Gelenke geöffnet und alle Teile des Körpers auf das Untere Dan Tian im Unterbauch ausgerichtet sind, kann sich Qi im Dan Tian sammeln und von dort ausgehend im gesamten Körper frei zirkulieren. Die Stehende Säule, die erste Übung des Zhan Zhuang-Gong dient dazu, diese Haltungsstruktur sowie innere Kraft zu entwickeln. Vor allem zentriert sich unser Qi im Unterbauch. Die Energiefülle aus dem Kopf/Gedanken und aus dem Brustkorb/Emotionen kann in den Unterbauch abfließen, d.h. Kopf und Brust werden leer. All unsere Sinne lauschen in dieser Phase des Lernens dabei nach innen. Im entspannten, gelösten Zustand können so innere Energien erst wahrgenommen werden. Unser unteres Dan Tian wird somit zum Zentrum dieser Übung. Das Lernziel von Wuji Zhuang und Zhan Zhuang ist Entspannung, Stille, eine optimale Haltungsstruktur und die Konzentration von Qi im unteren Dantian.
Auf diesen Ergebnissen aufbauend, arbeiten wir bei folgender Übung, Can Si Gong, am bewussten Lenken des Qi mit einer klaren Unterscheidung der Yin und Yang Phasen. Die Haltungsstruktur, Ruhe und Verwurzelung werden hier bei einfachen, sich stets wiederholenden, Bewegungen erhalten, alle Bewegungen bleiben auf das Untere Dantian ausgerichtet.
Es ist wichtig, die Übergänge, die energetischen Wechsel von Yang zu Yin und umgekehrt klar zu erarbeiten, um die energetische Qualität richtig nutzen und kontrollieren zu können.
Yin und Yang, zentripetal und zertifugal zu unterscheiden, gelingt recht einfach. Um das Verständnis von Taiji Quan zu vertiefen, ist es notwendig, Yin und Yang differenzierter zu unterscheiden (siehe 8 Trigramme das Yi Jing). So erkennen wir schon bei der 1. Reeling Silk Übung ein aufbauendes Yang und ein vollendetes Yang, ein aufbauendes Yin und ein vollendetes Yin. Schließlich und endlich sind die 2 Sets a 10 Übungen des Can Si Gong der energetische Schlüssel des Taiji Quan, um die innere Arbeit klar zu verstehen sowie das Dan Tian und Hüfte als Ursprung der Bewegung einzusetzen. Eine Fortsetzung mit komplexeren Bewegungsabläufen stellt die Taiji Form dar. Es gilt, die aufgebaute Haltungsstruktur und Dan Tian-Ausgerichtetheit in komplexen Bewegungsabläufen und Tempowechsel nicht brechen zu lassen.
Laut Großmeister Chen, Xiao-Wang durchlaufen wir 5 Level auf dem Weg zur Meisterschaft.
Die Grundlagen für die verschiedenen Bereiche des Körpers im 1. Level sind:
- den Körper lotrecht aufrichten
- den Kopf und Nacken so aufrichten, als wäre der Körper an einem Faden von oben leicht aufgehängt
- die Schultern entspannen und die Ellenbogen sinken lassen
- Brust- und Hüftbereich entspannen und sinken lassen
- die Knie leicht beugen und den Unterleib entspannen
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, wird die innere Energie auf natürliche Weise in das Dan Tian hinab sinken.
Im 1. Level wird der Übende Schwierigkeiten haben, dass Körperpositionen die richtige Ausrichtung haben und dass die Koordination zwischen Armen und Beinen bei jeder Figur übereinstimmt. Die innere Energie, das Qi, kann nach und nach eine Verfeinerung der Bewegungen innerhalb des Rumpfes und aller Körperglieder herbeiführen. Man wird dann in der Lage sein, durch äußere Bewegungen inneren Energiefluss zu kanalisieren.
Im 2. Level wird die Ausrichtung der Haltungsstruktur weiter verfeinert. Der Übende ist fähig, den Fluss der inneren Energie wahrzunehmen, kann ihn aber noch nicht kontrollieren. Jede Bewegung darf nicht vom Prinzip der Seidenübung (Can Si Gong) abweichen.
Während des 2. Levels richtet sich die Aufmerksamkeit überwiegend auf das Aufdecken von Blockaden und unzusammenhängenden inneren und äußeren Bewegungsabläufen der einzelnen Körperteile.
Im 3. Level sollten wir diesen Energiefluss herstellen können. Die einzelnen Schritte während der Ausübung des Chen Taiji Quan beinhalten die Entwicklung von der Beherrschung der großen Zirkel über die mittleren Zirkel bis hin zu den kleinen Zirkeln. Im 3. Level sollte man mit den großen Kreisen beginnen um dann in den mittleren Kreisen der Energiezirkulation zu enden.
Die klassischen Texte des Taiji Quan besagen, das Yi (Aufmerksamkeit) und Qi höher einzuschätzen sind als die Formen. Das heißt, man soll während des Ausübens der Formen der Aufmerksamkeit große Bedeutung beimessen.
Innerhalb des 1. Levels wird die Aufmerksamkeit noch überwiegend auf das Erlernen und die Beherrschung der äußeren Formabläufe des Taiji Quan gelegt.
Während des 2. Levels richtet sich die Aufmerksamkeit überwiegend auf das Aufdecken von Blockaden und unzusammenhängende innere und äußere Bewegungsabläufe der einzelnen Körperteile.
Im 3. Level des Taiji Gong-Fu sollten wir bereits diesen Energiefluss herstellen können. Die Koordination zwischen der inneren und äußeren Bewegung gelingt uns hier besser.
Innerhalb des 4. Levels sollte der Fortschritt von den mittleren zu den kleinen Spiralbewegungen gemeistert werden. Dies ist die Stufe, auf der wir uns dem Erfolg nähern.
Man sollte in der Lage sein, die wichtigen Anforderungen der Formen begriffen zu haben und ausführen zu können. Der Körper bildet innerhalb der Bewegung ein in sich geschlossenes System. Die kämpferischen Fähigkeiten in diesem Level sind deutlich größer als noch im 3. Level.
Das 5. Level ist die Stufe, in der man von der Beherrschung kleiner Zirkelbewegungen übergeht zu nicht mehr sichtbaren Zirkelbewegungen. Man geht über vom meistern der Form zur unsichtbaren Ausübung. Die Bewegung kommt ungebrochen aus dem ganzen Körper.
Taiji Quan beinhaltet die drei Aspekte Gesundheit, Meditation und Selbstverteidigung. Welcher Aspekt auch immer für mich im Vordergrund steht, die Inhalte des Trainings sowie die Entwicklungsschritte bleiben gleich.
Bei täglich richtigem Üben benötigen wir 7-10 Jahre zum meistern des Chen Taiji, zur Vervollkommnung ist ein Leben nicht genug.
Gerhard Milbrat